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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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verschnürten Kleiderpaketen versteckt.
    Sie fuhren auf die nächste Grenze zu – das Ende der DDR. Görlitz war wie Herleshausen. Wo Willkür erlaubt ist, wird Willkür ausgeübt. Wo Anschnauzen nicht verboten ist, wird Anschnauzen zum Umgangston. Wo Schikane ein Recht ist, wird schikaniert. Die Grenzer wühlten in ihren Koffern, als bestünde der Inhalt aus Müll. Sie zeigten auf den Lastwagen: Aufschnüren. Sie hatten es nicht nötig, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Sie leuchteten mit großen Taschenlampen zwischen die Pakete.
    Wir fahren nach Polen, sagte er, aber das war, als hätte unter dem Wagen eine Maus gequietscht.
    Erkläre ihnen, wen wir besuchen, sagte Lena. Heiner winkte ab. Ich erkläre gar nichts, das werden wir einfach ertragen. Als sie nach vier Stunden abgefertigt waren, zeigten die Grenzer stumm auf den Schlagbaum und Lena fuhr den ›Czerwony‹ ein paar Meter weiter, dorthin, wo Görlitz Zgorzelec heißt. Hier hofften sie auf freundliche Menschen – aber die taten, als gäbe es sie gar nicht. Heiner zündete eine Zigarette an der anderen an. Die Falten in seinem Gesicht waren in den Stunden an der Grenze tief und scharf geworden. Im weißen Licht der Laterne sah er wie ein Greis aus. Als sie dachten, man ließe sie bis zum nächsten Morgen stehen, um sie dann auseinander zu nehmen, trat eine Grenzerin aus der Baracke und haute ihnen grußlos einen Stempel in die Ausweise.
    Steig ein, Schatz, sagte Lena, den Rest schaffen wir auch. Der Rest war eine gute Stunde Fahrt zu einem unaussprechlichen Ort mit vielen Zischlauten. Lena zog die Wegbeschreibung, die für den hellen Tag gemacht worden war, aus der Handtasche. Wie sollte sie auf Straßen ohne Beleuchtung die siebte Linde hinter der Kreuzung finden oder das helle Haus auf dem Feld neben der Kirche? Einmal schrie Heiner: Lena, pass auf! Sie fuhr auf einen Traktor zu, der ohne Licht am Straßenrand stand. Sie waren überwach und todmüde, bleischwer und federleicht zur gleichen Zeit. Sie hatten fünfundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Noch eine Grenze und ich drehe durch, sagte Lena. Heiner lächelte: Nicht schlapp machen. Wenn der Zettel stimmt, sind wir gleich da.
    Im Dämmerlicht des neuen Tages bogen sie in den Innenhof eines grauen Häuserblocks ein. Aus dem einzigen Fenster, hinter dem Licht brannte, lehnte ein Mann, der stürmisch winkte und dann, als sei er geflogen, vor ihnen stand. Das war Leszek. Der Freund, der Kamerad. Zwei Jahre hatten sie auf derselben Pritsche nebeneinander gelegen. Leszeks Füße an Heiners Kopf. Bauch und Brust an Heiners Beinen. Leszeks Kopf an seinen Füßen. Und umgekehrt. Heiners Kopf an Leszeks Füßen. Brust und Bauch an seinen Beinen. Die Heiner-Füße am Leszek-Kopf. Sie klebten nachts zusammen, als seien sie ein bizarres Insekt mit zwei Köpfen und acht Fühlern.
    Leszek hatte große, abstehende Ohren. Er trug eine ausgebeulte Schiebermütze. Heiner sprang mit einer Kraft aus dem Lastwagen, als sei er nicht gerade noch fast ohnmächtig vor Müdigkeit gewesen. Die Männer gingen langsam aufeinander zu, als wollten sie die Begrüßung durch die kleine Verzögerung noch kostbarer machen. Heiner schlang seine Arme um Leszek und Leszek lehnte den Kopf gegen Heiners Brust. So standen sie da, still und innig, mit geschlossenen Augen. Der eine lang und dünn, der andere einen Kopf kleiner und viereckig. Lena spürte, wie ihr der Anblick den Hals zuschnürte. Von keiner Freundin, keinem Mann, nicht von ihrer Mutter und nicht von Heiner war sie je so innig umarmt worden. Kann man sich eine solche Umarmung verdienen? Wie? Womit? Das Leben aufs Spiel setzen für einen Freund? Hunger, Prügel, Todesangst mit einem Menschen teilen – ist das der Preis? Möchte sie den zahlen? War sie eifersüchtig auf die Vergangenheit dieser Männer? Absurder Gedanke.
    Willkommen unter Verrückten, sagte Leszek und küsste Lena die Hand.
    Schön, dass ich dich kennenlernen darf, sagte Lena in ihrem besten Polnisch.
    Am Küchentisch füllte Leszek drei Wassergläser mit Bimber, dem selbst gebranntem Wodka, ein besseres Schlafmittel gab es nicht. Er hatte die Besenkammer ausgeräumt, einen langen Raum mit zwei Haken an der Wand, ein paar Kleiderbügeln, einem Stuhl, einer Kommode, zwei dicken, aufeinander liegenden Matratzen und einem Fenster zum Hof. Könnt ihr so schlafen, fragte Leszek. Heiner ließ sich aufs Bett fallen. Keine Läuse, keine Wanzen, kein stinkendes Stroh, mein Freund, was für ein Luxus.
    Im Hof stand

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