Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
Vom Netzwerk:
tschechischen Frau, die den Satz nicht wiederholen konnte, weil sie ihn nicht verstanden hatte. Nach zwei Monaten lebten von vierhundert Frauen noch einhundertacht. Leszeks Tante bekam Typhus, die Krankheit zum Tode, die ihr das Leben rettete. Ein Arzt aus Krakau mit guten Kontakten im Lager organisierte Morphium und Zofia wurde gesund, wenn es so etwas wie Gesundheit hier gab. Sie durfte im Typhusblock bleiben und als Leichenträgerin arbeiten. Wer eine Arbeit unter einem Dach fand, war ein Glückspilz.
    Heiner rauchte. Leszek kochte immer neuen Kaffee. Beide drängten Lena, zu essen, was auf dem Tisch stand. Eier, Speck, Krautsalat – glaubten sie, die Geschichte sei mit vollem Magen besser zu ertragen?
    Eines Abends sang Zofia für die Frauen in ihrer Baracke leise ihre liebste Bachkantate: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? Das weiß der liebe Gott allein, ob meine Wallfahrt auf der Erden … Sie stockte. Eine SS-Aufseherin näherte sich der Gruppe mit der Peitsche, die sie nie aus der Hand legte, die wie festgewachsen darin lag. Wo man sterben konnte für einen falschen Blick, konnte auch eine Kantate das Ende sein. Weitersingen, befahl die Aufseherin und Zofia begann von vorne: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? Das weiß der liebe Gott allein, ob meine Wallfahrt auf der Erden, kurz oder länger möge sein. Hin geht die Zeit, her kommt der Tod.
    Du sprichst Deutsch? Zofia nickte: Ein bisschen.
    Die Aufseherin hieß Erdmute. Sie konnte die Peitsche benutzen oder auch nicht. Sie konnte Leben vernichten oder Leben verlängern. Heute so, morgen so. Sie konnte Zofia in den Steinbruch schicken oder ihr eine Arbeit in der Baracke der Aufseherinnen anbieten. Warum? Es gab kein Warum. Es gab gute Laune und schlechte Laune und Erdmute hatte gute Laune an diesem Tag zu dieser Stunde, und darum durfte Zofia die Baracke der Aufseherinnen schrubben, bis sie glänzte. Entdeckte Erdmute ein Körnchen Sand, gab sie dem Wassereimer einen Tritt und das Wischen begann von vorne. Was wie Schikane aussah, rettete Zofia das Leben. Sie durfte hier nur wischen, wenn es auch etwas zu wischen gab. Einmal pro Woche wurde Zofia zum Duschen geschickt, weil sich die Unterscharführerin hysterisch vor Flöhen und Läusen fürchtete. Glück für Zofia.
    Im Januar 1945 hörten sie den ersehnten Kanonendonner. Jeden Tag ein bisschen lauter, ein bisschen näher. Die Russische Armee rückte vor, die Nazis vernichteten hektisch Dokumente, ermordeten Augenzeugen, zündeten Baracken an, für Systematik war keine Zeit. Im Januar 1945 wurde Tante Zofia mit siebentausend Frauen auf den Todesmarsch ins ›Reich‹ geschickt und am 30. April 1945 von Soldaten der Roten Armee aus Ravensbrück befreit. Sie wog vierunddreißig Kilogramm, schlug sich mit fünf Frauen nach Krakau durch und schwor bei der Heiligen Gottesmutter, sich nie im Leben wieder einem dieser verfluchten Orte zu nähern.
    Wie das so ist mit Schwüren, sagte Leszek – Zofia fuhr im selben Jahr mit ihrer Mutter nach Auschwitz, weil die nicht glauben konnte, was die Tochter erzählte. Zofia zeigte ihr Birkenau. Die Schienen. Die Rampe. Das Birkenwäldchen. Den See mit dem Wiesenschaumkraut. Das Frauenlager. Ihre Baracke im Abschnitt B1a. Ihr Bett. Sie fand eine verwanzte Decke und streichelte sie in Erinnerung an die Frauen, die sich damit zugedeckt hatten. Sie zeigte der Mutter die Baracke, die von den Häftlingen ›Kanada‹ genannt wurde nach dem fernen Sehnsuchtsland, in dem es alles gab. Das deutsche Kanada war ein Ort unvorstellbaren Reichtums gewesen. Geld und Gold. Uhren und Schmuck. Pelzmäntel, Schuhe und Bettwäsche aus Seide. Spielzeug für die Kinder und warme, blaue Wolldecken, die die Juden aus Holland bei sich hatten, als sie hier ausgeladen wurden. Schinken aus Frankreich, belgisches Dosenfleisch, dänischer Käse, Schokolade, Wein, Tabak und Zigaretten, in ›Kanada‹ gab es einfach alles, was Menschen einpacken, wenn sie glauben, sie müssen sich in einem fremden Land ein neues Leben einrichten. ›Kanada‹ war bis unters Dach voll mit Dingen, die man den Menschen gestohlen hatte, bevor man sie in die Gaskammern trieb und jetzt war das Lager tot, aber nicht für Zofia. Für sie lag das Dauerbrummen von hunderttausend Häftlingsstimmen in der Luft, das Schnaufen der Züge, wenn sie an der Rampe hielten. Sie sah den Morast, spürte den Winter in den Knochen, die Wanzen, die Flöhe, die Knüppel und Peitschen. Es gab keinen Millimeter Abstand zwischen ihr und diesem Ort.

Weitere Kostenlose Bücher