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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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sagen: Ich hab gesehen, was dort geschah. Aber die Stärke kostet Kraft. Einfacher, verlockender war es, aufzugeben, in den Zaun zu gehen, sich erschießen zu lassen. Wer tot ist, friert nicht mehr, hat keinen Hunger, keinen Durst, keine Angst. Er lachte. Wer tot ist, hat es überhaupt einfacher im Leben, wenn ich das so sagen darf.
    Was hat dich an ihm angezogen?
    Nicht sein Charme, den hatte er in Wien gelassen. Er war … wie sagt man bei euch … treu bis in den Tod. Wenn du sein Freund warst, war das für immer. Ich stand schon auf Klehrs Liste. Ich würde dich jetzt nicht durch Breslau fahren, wenn mich dein Mann nicht im Krankenbau zwischen den Toten versteckt hätte.
    Er sagt, du hättest ihm das Leben gerettet.
    Mag sein. Er mir, ich ihm, wir uns.
    Und deine Mission?
    Ein Gesicht.
    Ein Pagenkopf, schmale Augen und im Kinn ein Grübchen?
    Er nickte. Wir haben uns schon unter der Schulbank an den Händen gehalten.
    Leszek sah in den Rückspiegel. Halt dich fest, rief er, riss das Steuerrad herum, bog, ohne zu blinken, in eine Gasse, trat aufs Gas, raste gegen die Einbahnstraße und hatte Glück, dass ihm keiner entgegenkam. Im Rückspiegel beobachtete er, wie der weiße Fiat an der Straße vorbei schoss. Er lenkte den Wagen auf einen Hof, wartete hinter der Scheune, bis ihn auch der schwarze Fiat verloren hatte. Den Fahrer des grauen Ladas lockte er an, indem er gut sichtbar neben einer kleinen Kirche parkte, in der um sechs der Gottesdienst begann.
    Lektion zwei, Lena. Steig aus. Geh langsam.
    Sie schlossen sich den in die Kirche drängenden Menschen an. Als der junge Mann in Lederjacke, der ihnen gefolgt war, sie dort suchte, hatten sie die Kirche durch die Krypta verlassen und standen auf dem Friedhof. Leszek drückte Lena eine Pudelmütze in die Hand.
    Setz auf.
    Mit einer schnellen Bewegung tauschte er seine graue Schiebermütze gegen eine rote Baskenmütze. Sein Kopf war einen Augenblick bloß gewesen, ein blanker Schädel mit einer breiten Narbe. Sie spazierten über den Friedhof wie Trauernde auf dem Weg zu einem Grab.
    Du siehst weiß aus, Lena, ist dir nicht gut?
    Geht schon.
    Er kann uns nicht verfolgen, sagte Leszek, er steckt in der Krypta. Der Pfarrer hat ihn aus Versehen eingeschlossen.
    Lena hatte weiche Knie und dort, wo sonst das Herz saß, schien ein verrückter Trommler zu sitzen. Leszek war ruhig, fast amüsiert.
    Gib mir deine Hand, Lena.
    Ob man Angst verlieren kann wie einen Schlüssel oder Mantelknopf? Der Geheimpolizist saß in der Krypta, Leszek muss gewusst haben, wohin er ihn locken wollte.
    Leszek, wohin gehen wir?
    Er legte den Arm um sie. Wir sind ein verliebtes Paar auf dem Weg zu einer Party.
    Sie verließen den Friedhof durch einen Nebenausgang, fuhren zwei Stationen mit der Straßenbahn und stiegen in einer Allee mit hohen Bäumen aus. Leszek zog Lena in ein Treppenhaus, durch einen Fahrradkeller, sie durchquerten einen Gemüsegarten. Lektion drei. In Zeiten wie diesen, sagte er, werden die Wege zum Ziel etwas länger. Sie betraten das Haus, in dem die ›Party‹ stattfand, von hinten durch die Kellertür, zu der Leszek den Schlüssel hatte. Er kannte den Weg. Im Dunkeln sprang er die Treppen hoch und rief: Katinka, Marian, ich bin’s, Leszek. Eine Frauenstimme antwortete: Wir sind im Musikzimmer, kommt hoch. Sie stiegen über eine geschwungene Holztreppe in den ersten Stock. Das Parkett war grau und abgetreten, von den Wänden blätterte der Putz, der Stuck an der Decke des Musikzimmers bestand aus kunstvoll ineinander verschlungenen Geigen und Weinblättern, die nicht mehr bunt waren. Der bleiche Stuck verriet eine feine Vergangenheit.
    In der Mitte des Zimmers stand ein Flügel, um den herum etwa fünfzehn Menschen standen. Die Vorhänge waren zugezogen, der Raum durch Kerzenlicht erleuchtet. Ein Paar löste sich aus der Gruppe, Katinka und Marian. Du musst Lena sein, riefen sie, willkommen in Polen. Katinka, eine drahtige Frau mit kurzen Haaren, hakte sich bei ihr ein und schob sie von einem Gast zum anderen. Staszek – Lena aus Deutschland. Krystyna – Lena. Ryszard, Jozef, Adam, Jacek, Antonia – Lena aus Deutschland. Sie waren jung, Ende zwanzig, Anfang dreißig. Leszek hätte ihr Großvater sein können. Katinka und Marian waren älter, vierzig vielleicht. Schnell war Lena Mittelpunkt eines Gewitters aus Fragen. Woher kommst du? Frankfurt? Kennst du Rüsselsheim? Da stand ich beim Opel am Band. Ich habe Verwandte in Ingelheim, die arbeiten beim Boehringer. Wo

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