Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
Vom Netzwerk:
Sonntagmorgen in Krakau vor. Wie hieß die Straße, in der sie wohnte?
    Szerokastraße.
    Hör zu: Es gab an diesem Tag keinen Jungen auf der Flucht. Es gab keinen versteckten Leszek in der Wohnung, keinen Wagen im Morgengrauen, keine Verhaftung, keine Verhöre, keinen Krieg. Die Tauben gurrten und die Kirchenglocken riefen zur Andacht. Zofia steht früh auf und verlässt die Wohnung gegen halb neun. Sie hält ihr Gesicht in die Frühlingssonne. Sie freut sich auf den Tag. Sie trägt ein blaues Kostüm mit großen Knöpfen und auf dem Kopf einen Hut, dessen Krempe bei jedem Schritt wippt. Sie geht schnell und elegant auf hohen Absätzen. Vor dem Dom wartet ein Mann. Er ist groß, er hat einen weißen Schal um den Hals geschlungen. Er geht ihr entgegen und umarmt sie. Gemeinsam betreten sie den Dom und steigen auf die Empore, die Bänke sind bis auf den letzten Platz besetzt. Bach steht auf dem Programm. Zofia setzt sich an die Orgel, niemand spielt das Oratorium ergreifender als sie. Der Mann begleitet sie mit tiefer Stimme. Wohlan, dein Name soll allein in meinem Herzen sein.
    Heiner sagte: So war es, Lena. Genau so.

Als Lena am nächsten Tag von einem Spaziergang durch die Schrebergärten zurückkam, hörte sie schon im Treppenhaus laute Stimmen. Sie konnte jedes Wort verstehen, die Männer stritten. Willst du, dass sie durch Polen fährt, ohne Polen zu sehen? Willst du sie mit KZ-Geschichten mästen? Soll sie ersticken? Ist es das, was du willst? Darf sie sich kein Bild davon machen, wer in diesem Land gegen wen aufsteht und warum? Das war Leszeks Stimme. Lena blieb vor der Wohnungstür stehen und lauschte. Sie hatte Heiner noch nie schreien hören. Du gefährdest unsere Fahrt. Wenn sie dich schnappen, ist mir das egal, du weißt, was dich erwartet – aber Lena halt da raus. Sie schloss die Tür auf. Ihr zankt?
    Dein Mann, sagte Leszek, will verhindern, dass ich dir Polen zeige. Er will dich mit dem Stückchen beschissener Erde erschlagen, ohne die er offenbar nicht leben kann. Ich fahre nach Breslau und dachte, du könntest mitkommen.
    Herausfinden, ob du ein harmloser Kauz bist?
    Auch das.
    Lena sah Heiner an. Und du?
    Er hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und die Hände, um sie zu wärmen, um die Kaffeetasse gelegt.
    Heiner, ich rede mit dir.
    Er starrte auf den Tisch wie ein verstocktes Kind. Lena stellte sich hinter ihn und legte ihm ihre Hände auf die Schultern. Sie waren steif und abweisend.
    Dein Freund will mir sein Land zeigen, was ist dagegen zu sagen?
    Er schwieg.
    Lena sagte auf Polnisch: Leszek, wann brechen wir auf?
    Zaraz. Sofort. Nimm Ausweis und Zahnbürste mit.
    Auf dem Flur sagte er so laut, dass Heiner es hören konnte: Dein Mann geht keiner Gefahr aus dem Weg. Er ist tollkühn. Für die, die er liebt, riskiert er sein Leben – nur stirbt er vor Angst, wenn sich andere in Gefahr begeben und, er hob die Stimme und rief in die Küche: Darum liebe ich ihn!
    Sie hörten, wie der Küchenstuhl zurückgeschoben wurde, dann stand Heiner im Türrahmen. Sein Gesicht war nicht mehr starr, er hatte Tränen in den Augen. Die Männer umarmten sich. Sie schlugen sich nicht burschikos auf die Schultern, sie lehnten ihre Körper einfach aneinander. Vertraut. Zärtlich. Als wären sie einmal ein Liebespaar gewesen.
    Er sah ihnen aus dem Küchenfenster nach, winkte, bis sie ihn nicht mehr sehen konnten. Dann ging er in den Flur, nahm den Mantel von der Garderobe, steckte den Schlüssel ein und ging in die Gartensiedlung. Über einen Stichweg näherte er sich dem Haus, auf dessen Dach vor einem Tag der Mann saß, den Leszek Scheindachdecker genannt hatte. Er stand am Gartenzaun und rauchte. Er sah Heiner nicht, er blickte in die Richtung, in die Leszeks Auto gefahren war. Heiner stellte sich dicht vor ihn, zündete langsam eine Zigarette an und blies dem Mann den Rauch in die Augen.
    Edward?
    Der Mann trat einen Schritt zurück und Heiner sagte ganz sanft eines der wenigen polnischen Wörter, die er kannte: Szpicel. Dann sprach er deutsch weiter und wusste, dass der Mann jedes Wort verstand.

Auf der Landstraße fädelte sich Leszek in eine lange Autoschlange ein. Die Breslauer kehrten vom Sonntagsausflug zurück.
    Leszek, wohin fahren wir?
    Er lenkte den Wagen um ein Schlagloch herum und sah in den Rückspiegel. Statt zu antworten, sagte er: Lektion eins. Wie stellst du fest, ob dir jemand folgt?
    Sie sah sich um. Bis auf die Größe und Farbe glich ein Auto dem anderen. Die Männer saßen am

Weitere Kostenlose Bücher