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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Radio Solidarność Walczasa. Hier Radio kämpfende Solidarität. Guten Abend, meine Lieben. Dieses ist schon unsere fünfte Sendung …

Am frühen Morgen klopfte Heiner an Zofias Tür, horchte und betrat den Raum achtsam wie ein Krankenzimmer. Zofia lag in ihrem Berg aus Kissen und sah in die Landschaft, die vor ihren Füßen begann und dort endete, wo sie auf den Himmel traf. Sie sah ruhig und nachdenklich aus, als ginge sie an einem schönen Tag spazieren. Er setzte sich zu Zofia aufs Bett, er streichelte ihre Hände bis sie das Murmeln einstellte. Ich mache dich fein, meine Zauberfee, sagte er, bürstete ihr, Strähne für Strähne, das offene Haar und flocht daraus zwei lange weiße Zöpfe. Leszek und Lena sahen ihm zu.
    Woran denkst du, wenn du die beiden siehst?
    An den Mittelfinger der Frau in der Szerokastraße, sagte Leszek, an die Frau, die vor vierzig Jahren einem heulenden Jungen das Blut von den Knien tupfte. Der Junge starrte auf das Blut und weil er nicht aufhörte zu wimmern, sagte sie: Schau nicht hin, schau auf meinen Ring. Ich prägte mir den Ring ein, den sie auf dem linken Mittelfinger trug. So einen Ring hatte ich noch nie gesehen, er hatte keinen Stein, sondern eine Münze mit einer Gravur, es war ein grünlich-schwarz schimmernder Käfer mit schaufelartigen Zangen. Kein schönes Tier, aber es fesselte mich, weil es kräftig aussah. Sie sagte, das sei der Heilige Pillendreher Skarabäus. Seine Flügeldecken glänzten wie Gold. Er hat die Menschen im alten Ägypten an ihren Gott Re erinnert, sagte Tante Zofia, einen Gott, der mit der Sonnenbarke über den Himmel gleitet. Ich wusste nicht, was eine Barke war, aber den Käfer und die schöne Hand, die mir zwei große Pflaster aufs Knie drückten, könnte ich noch immer zeichnen. Skarabäus ist ein Glücksbringer, erklärte mir Zofia damals, man legt ihn den Toten auf die Brust, damit sie auferstehen können.
    Schau Heiner an, sagte Lena, wie zärtlich er sie kämmt.
    Mach dir nichts draus, alle Geschorenen sind in lange Haare vernarrt.

Zum Abschied kein ›Auf Wiedersehen‹, keine Umarmung, kein Lebewohl, Heiner wandte sich schroff von seinem Freund ab und stieg eilig in den Lastwagen. Mit jedem Meter, den sie sich entfernten, wurde Leszek kleiner, bis im Rückspiegel nur noch zwei Hände neben einer Schiebermütze flatterten. Heiner faltete die Karte auseinander und gab die Route an: Vor Breslau auf die E 22 Richtung Gleiwitz, dann auf die E 221 Richtung Kattowitz, zwischen Kattowitz und Krakau liegt Oswiecim. Er schätzte die Fahrt auf fünf Stunden. Zwischen ihnen stand der Korb, randvoll mit Salaten und Eiern, Brot und Wasser aus dem Brunnen der alten Katarzyna, die Nachbarn hatten Würste und ein gebratenes Huhn gebracht. Iss, Lena, was du im Bauch hast, kann dir niemand stehlen. Die Straßen waren leer, nach zehn Kilometern begegneten sie dem ersten Panzer. Das lange Rohr schwankte ihnen entgegen, als hätte es sie gesucht. Nicht bremsen, hatte Leszek gesagt. Nicht ausweichen. Weiterfahren, ruhig bleiben. Nur anhalten, wenn sie ein Zeichen geben, dann Schokolade und Zigaretten verteilen. Keine Angst, ein Panzer ist nur ein großes Auto mit Kindern, die man Rekruten nennt.
    Die Straße war grau und gerade wie ein Lineal. Die Sonne kämpfte mit den Wolken und verlor den Kampf, es war ein trüber Tag. Fahr schneller, trieb Heiner, sonst kommen wir im Dunkeln an. Lena fuhr den Siebeneinhalbtonner keinen Kilometer schneller als es die Schlaglöcher zuließen.
    Der Leszek ist ein prima Kerl.
    Sag ich doch. Er hat mir das Leben gerettet.
    Er sagte, du ihm.
    Er mir, ich ihm, wir uns, wer weiß das schon so genau.
    Heiner griff in den Proviantkorb und pellte zwei Eier. In Gleiwitz übernahm er das Steuer. Lenas Bitte, eine halbe Stunde an einem Acker entlang zu laufen, die steifen Glieder zu bewegen, lehnte er ab. Er war zu nah am Ziel. Er spürte den Sog. Er fuhr zu schnell. Auf einer öden Landstraße entdeckte er eine Zapfsäule und eine Bretterbude. Sie brauchten Benzin, sie mussten die Luft in den Reifen prüfen. Ein dünnes Männchen kam aus einer Bude, gähnte und rieb sich die Augen.
    Ausgeschlafen, fragte Lena.
    Der Mann zog offenbar schon so viele Jahre den rechten Fuß nach, so dass zwischen Bretterbude und Zapfsäule ein kleiner Graben entstanden war. Er warf einen schnellen Blick auf das Nummernschild und rief, als wolle er Zirkuskarten verkaufen: Hereinspaziert, hereinspaziert und zeigte mit dem Daumen hinter die Bude. Sie sollten

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