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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Steuer, die Frauen daneben, auf den Rücksitzen sahen Kinder aus den Fenstern, die Oma, der Opa oder der Hund. Auf den Ablagen saßen Puppen und Kuscheltiere, nichts Besonderes, Familien, die nach Hause fuhren. Verfolger stellte sich Lena anders vor. Sie sagte: Ich würde die Autos, die lange hinter uns bleiben, im Rückspiegel beobachten, und der eine Wagen, der uns nie überholt …
    Leszek lachte. Schlau, Lena. Und wenn das Zufall ist? Wenn der Fahrer dasselbe Ziel hat wie wir? Und wenn es drei sind, die uns verfolgen, vier oder fünf, die sich abwechseln? Was machst du dann?
    Ich bin noch nie verfolgt worden.
    Er zeigte auf das Handschuhfach: Nimm Block und Stift.
    Dann sagte er: Pass auf, wir fahren kreuz und quer durch Breslau, dann verlassen wir das Zentrum und steuern ruhige Vororte an. Sollten wir einen Schatten haben, entdecken wir ihn dort eher als in der Stadt.
    Er uns auch.
    So soll es sein. Wir binden ihn an uns, sonst erkennen wir ihn nicht. Wir fahren jetzt nach Norden, dann nach Westen, dann wieder nach Norden oder Süden, planlos. Du schreibst die Nummern und Marken der Autos auf, die uns überholen, entgegenkommen oder starten, nachdem wir an ihnen vorbeigefahren sind. Das machst du eine halbe Stunde.
    Leszek, ich kenne keine Automarken.
    Macht nichts. Wenn du Nummern findest, die mehrmals auftauchen, wirst du einen Blick für Automarken entwickeln, auch wenn du nicht weißt, wie sie heißen.
    Er fuhr kreuz und quer durch die Innenstadt, steuerte die Außenbezirke an, in denen der Verkehr dünner wurde. Lena starrte auf Nummernschilder und schrieb auf, was sie behalten konnte. Viel war das nicht. Ihre Augen waren zu langsam. Während sie den Kopf senkte, um eine Nummer zu notieren, kamen ihnen vier bis fünf Autos entgegen, deren Schilder sie nicht einmal sah.
    Lass die Augen auf der Straße, sagte Leszek, schreib blind.
    In den nächsten dreißig Minuten trug Lena eine lange Kolonne von Buchstaben und Zahlen zusammen, sie wollte Erfolg haben, wollte Leszeks gelehrige Schülerin sein aber so sehr sie sich anstrengte, sie entdeckte kein Kennzeichen, das sich wiederholte.
    Leszek, ich kann das nicht, ich bin zu dumm. Oder es beschattet uns niemand. Er schüttelte den Kopf. Kann nicht sein. An einem Tag wie heute ist Verlass auf sie. Mach weiter.
    Sie wechselte die Methode. Sie benutzte die Augen als Fotoapparat, prägte sich die Kennzeichen wie ein Bild ein und sagte laut, was sie sah: WCZ eins, neun drei, vier, sieben. OPL acht, neun, fünf, zwei. Je länger sie schrieb, desto schneller wurde sie. Bald fuhr ihr kein Wagen mehr unerkannt davon. Und tatsächlich: Es gab Buchstaben- und Zahlenkombinationen, die immer wieder vor oder hinter ihnen auftauchten. DW 437. DBL 1463. WW 5698.
    Leszek, rief sie begeistert, es sind drei!
    Drei Überwacher von der Geheimpolizei waren bedrohlich – aber in dem Augenblick der Entdeckung war Lena stolz wie ein Schulkind, das ein paar Buchstaben des Alphabets kannte und erste Wörter in das Schreibheft malte: Oma, Opa, Imi, Ata. DW 437. DBL 1463. WW 5698.
    Gut gemacht, Lena. Wir werden von einem großen Fiat Polski verfolgt, Farbe schwarz, einem kleinen Fiat Polski, Farbe weiß und einem blauen russischen Lada, blau, stimmt’s?
    Leszek musste keine Zahlenkolonnen untereinander schreiben, um herauszufinden, wer seine Verfolger waren. Ungerührt saß er hinter dem Steuer. Er kannte das Spiel. Verfolger gehörten offenbar zu seinem Alltag. Die breite Stirn unter der Schiebermütze, die abstehenden Ohren, das kräftige Kinn, Leszek war nicht zart wie Heiner, strahlte aber das gleiche Versprechen aus: In meiner Nähe wird dir nichts passieren.
    Leszek, darf ich etwas fragen?
    Nur zu.
    Wie war Heiner – dort?
    Er lächelte. Ich freue mich, dass er dich gefunden hat.
    Ich habe ihn gefunden. Sag mir, wie er war.
    Den Heiner von dort, sagte Leszek, den gibt es nicht mehr. Ich glaube, dass Menschen wie wir drei Leben haben. Eines vor ›dort‹, ein zweites ›dort‹ und unser drittes Leben ist ohne das zweite nicht denkbar. Als ich ihn kennenlernte, sagte ich mir: Halt dich fern von dem, der ist ein klassischer Selbstmörder. Wenn er es nicht geschafft hätte, seinen Hass in die Mission umzuwandeln, von der er besessen war, hätte er sich auf Kaduk, Klehr oder Boger gestürzt und damit direkt in den Tod. Alle, die nicht an einen Gott glaubten, hatten eine Mission, aus der sie ihre Stärke zogen. Heiners Mission hieß: Am Leben bleiben. Zeuge sein. Vor Gericht stehen und

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