Der Schrecken verliert sich vor Ort
arbeitest du? Bist du zum ersten Mal in Polen? Du stammst aus Danzig? Sie umarmten Lena, als sie hörten, dass sie polnisch sprach. Wie lange bleibst du? Was machst du hier?
Keiner der Gäste entfernte sich mehr als ein paar Meter von dem Flügel, auf dem ein kleines Kofferradio stand. Immer wieder warfen sie einen kurzen Blick auf die Skala, als hätten sie Angst, die könne sich von selber verstellen. Der Zeiger stand zwischen 68 und 71 Megaherz, die Frequenz, auf der an diesem Abend um 21 Uhr Radio Solidarność, der illegale Sender, zum dritten Mal zu ihnen sprechen wollte. In zwei Stunden.
Katinka sah auf die Uhr, alle sahen immerzu auf die Uhr. An einem Sonntag wie diesem wurden die Uhren anders gelesen. Es war nicht einfach fünf, sieben oder acht, es war vier, zwei oder eine halbe Stunde vor der magischen Zahl neun, dem Beginn der Sendung. Die Gesichter der Frauen waren auf eine besondere Art schön. Es gab darin, auch wenn sie lachten, den feierlichen Ernst von Menschen, die sich entschlossen hatten, mutig zu sein. Sie riskierten Prügel und Gefängnis und Berufsverbot. Marian war seit vier Monaten kein Physikprofessor mehr, er reinigte Straßenbahnschienen. Heiner hatte Recht, dachte Lena, ich gefährde unsere Reise. War Leszek sicher, dass niemand sie beim Betreten des Hauses gesehen hatte? Konnte nicht überall ein Spitzel hocken wie Edward aus der Gartenkolonie. Die jungen Leute hier, wussten die, was man tut, wenn es plötzlich klingelt oder die Haustür eingetreten wird? Wenn sie Polin wäre, wäre sie dann hier?
Leszek, wann weiß man, ob man ein feiger oder ein mutiger Mensch ist?
Wenn du dich entschieden hast.
Wann ist das?
Wenn dich die Umstände fragen, wohin du gehörst.
Und dann?
Entscheidest du. Augen zu oder Augen auf. Verstecken oder kämpfen. Angst oder Mut. Niemand will ein Held sein, aber manchmal geht es nicht anders.
Eine Stunde vor der magischen Zahl neun sagte Leszek: Komm, ich zeig dir was.
Er führte sie auf die Terrasse im zweiten Stock. Von hier hatten sie einen guten Blick auf die Straßen und die große Kreuzung am Ende der Gärten. Zunächst gab es noch Spaziergänger im Viertel, zehn Minuten später waren die Straßen leer und dann kündigte ein Brummen, tief und unheimlich, die Panzer an, die sich langsam, mit schwankenden Rohren, auf die Kreuzung schoben. Hubschrauber knatterten über die Dächer, eine Armada aus Streifen-, Mannschafts- und Zivilfahrzeugen machte Krach, als wolle ein Horror-Orchester die ganze Stadt kirre machen. An den Vorgärten stampften Männer mit heruntergeklapptem Visier vorbei. Woher kamen die so plötzlich? Wo waren die vorher gewesen? Wie eine bösartige Welle war das Militär über die Stadt geschwappt. Noch dreißig Minuten bis neun. Das wussten nicht nur alle in diesem Haus, das wusste jeder Spitzel im Land, die Polizei, das Militär, sonst wäre es nicht auf der Straße. Leszek lachte. Weißt du, Lena, auch die illegalste Sendung muss, damit man sie hören kann, öffentlich angekündigt werden.
Im Haus gegenüber wurde die Terrassentür geöffnet, Lena zählte elf junge Leute, die auf die Straße starrten.
Der Krieg tobt seit fünf Monaten, sagte Leszek, aber die Polen glauben nicht, was sich vor ihren Augen abspielt. Sie sind entsetzt, entgeistert, empört. Polen wurde in den letzten tausend Jahren immer wieder zerstückelt, vereinigt, überfallen, besetzt, neu zusammengefügt und wieder zerschlagen. Kein Volk kennt seine Geschichte besser als wir. Aus Königreichen wurden Herzogtümer, aus Herzogtümern Besatzungszonen, es gab Kriege gegen Schweden, das Osmanische Reich, Österreich und Preußen, du bist Danzigerin, du kennst die Geschichte. Die Polen kämpften gegen Stalins Russland und Hitlers Großdeutsches Reich, schlimme Zeiten – aber die Fronten waren immer klar: Polen gegen den Rest der Welt. Das wollte ich dir zeigen, Lena. Was hier vor der Haustür stattfindet, Polen gegen Polen – das ist ein Krieg, den wir nicht begreifen.
Die Luft dröhnte. Es roch nach Benzin. Verstehst du, sagte Leszek, warum sie das Radio hassen wie den ärgsten Feind? Für ein paar Minuten Sendezeit müssen sie ihr ganzes Spielzeug aus der Garage holen.
Sie finden den Sender nicht?
Natürlich finden sie ihn. Ihre Hubschrauber sind mit supermodernen Peilanlagen ausgerüstet, trotzdem brauchen sie zwanzig Minuten, um den Stadtteil zu orten, aus dem gesendet wird. Aber nach zehn Minuten schaltet sich der Sender automatisch ab. Dann hängen sie
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