Der Schrecken verliert sich vor Ort
mit ihren dröhnenden Heuschrecken in der Luft und wissen nicht mehr, wo sie suchen sollen.
Und dann?
Übernimmt ein zweiter Sender in einem anderen Stadtviertel auf einem anderen Dachboden das Programm. Dasselbe Spiel. Sie peilen, sie orten, sie rasen dorthin, wo sie den zweiten Sender vermuten und kurz bevor sie ihn gefunden haben, schaltet er sich ab und ein dritter schaltet sich ein, versteckt in der Werkzeugtasche eines Fahrrades, das irgendwo an einem Baum lehnt. So sausen sie wie besoffene Hornissen durch die Luft – das ist die Stunde der Zomos. Wenn die kommen, dann renn. Die kennen keine Grenzen, die treten blind vor Wut Haus- und Wohnungstüren ein, zerschmettern Möbel und Geschirr und prügeln auf alles ein, was sich bewegt. Was meinst du, Lena, kann man Kriegsrecht sehen?
Eine Frau war auf die Terrasse getreten. Sie stellte sich neben Leszek, er nahm sie in den Arm. Ein Pagenkopf, schmale Augen, ein Grübchen im Kinn, Leszeks Mission, seine Liebe. Sie umarmte Lena, als gehöre sie zu ihnen und Lena hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass sie für diese beiden mehr war als nur Heiners Frau. Sie war Besuch aus Deutschland, eine Frau, die polnisch sprach und in dieser Stunde bei ihnen war.
Leszek sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis neun. Im Radio knatterte und knisterte es, alle starrten auf die Sekundenzeiger ihrer Uhren. Noch zwei Minuten. Noch sechzig Sekunden, dreißig, zwanzig, zehn. Lena hielt die Luft an, die Spannung war unerträglich. Im Musikzimmer war es still wie in einer Kapelle, draußen knatterten die Hubschrauber. Neun, acht, sieben, sechs, fünf. Noch vier Sekunden, drei, zwei, noch eine und dann: Acht helle Töne – der Anfang einer Melodie. Leszek flüsterte: Altes Widerstandslied gegen die Nazis.
Neun Uhr. Das Knistern im Radio wurde lauter, darüber eine sanfte Frauenstimme:
Radio Solidarność Walcząsa. Wrocław. Radio kämpfende Solidarität. Breslau.
Die Menschen im Zimmer klatschten Beifall. Ihr Radio – es sendete. Die Stimme sagte: Meine Lieben, wir sind glücklich und bewegt, wenn wir zu euch sprechen können, auch wenn es nur für kurze Zeit ist. Wir sehen euch vor den Radios sitzen und unsere Worte hören. Die Worte, die man verhaften will. Dieses ist unsere dritte Sendung. Wir wenden uns heute an alle Hörer, die ein Tonbandgerät besitzen. Nehmen Sie diese Sendung auf. Warum? Wir können uns gut vorstellen, dass die Leute, die unsere Zwangsmassenmedien beherrschen, den Versuch machen werden, unsere Stimmen nachzuahmen, um die Öffentlichkeit zu täuschen. Wir wollen, dass Sie unsere Stimmen besser kennen lernen, damit Sie sie bei späteren Sendungen wiedererkennen. Wir werden diese Sendungen immer gemeinsam moderieren. Wenn uns Gott hilft, bis zum siegreichen Ende.
Marian ging ans Fenster und schob den Vorhang einen Spalt zur Seite. Draußen ist der Teufel los, sagte er und in seinem Gesicht stand die Freude Davids, wenn Goliath daneben haut. Während die Straßen Breslaus der Miliz gehörten, sagte die Stimme im Radio: Heben wir die Köpfe, die Zukunft gehört uns. Dann schwieg das Radio. Alle hatten Tränen in den Augen. Lena verkroch sich zum Heulen auf die Toilette. Ihre Rührung schien größer als die der Polen, dafür schämte sie sich.
Sie fuhren nach der ›Party‹ nicht mehr zurück, niemand fuhr nach Hause, die Nächte nach einer Sendung von Radio Solidarność waren lebensgefährlich. Sie saßen in der Küche an Katinkas langem Tisch und aßen und tranken, was mitgebracht worden war. Suppen, Brot, Krautsalat und Wodka. Keiner schien müde zu werden, nur Lena fielen gegen vier Uhr die Augen zu. Zu viel Neues, sagte Leszek, Akku leer. Katinka brachte Lena zum ›Schlafsaal für Gäste‹, ein Raum im Erdgeschoss, groß wie eine Turnhalle, Katinkas Yogaschule. Zwanzig weiche Matten, ein Turm aus Wolldecken, ein Korb voller Kissen. Als Lena aufwachte, lag sie zwischen Leszek und Roza.
Am nächsten Abend sahen sie den Aufmarsch, den sie von der Terrasse aus in Breslau beobachtet hatten, zusammen mit Heiner im Fernsehen. Die polnische Nachrichtenagentur sprach von Verhaftungen, vom endgültigen Aus des verbotenen Untergrundsenders. Auf diesen Sonntag folgte und jedes Mal dachte Lena an eine Party, auf der sich Köpfe über ein Radio beugten, in dem es rauschte und knatterte und an Menschen, die Sekunden zählten. Noch fünf, vier, drei, zwei, eine – der Sekundenzeiger springt auf die Zwölf. Einundzwanzig Uhr, acht helle Töne und eine junge Stimme:
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