Der Schrecken verliert sich vor Ort
heraus wir beten können. Ad fünf: Das Buch wird ein Erfolg, sagt Adam. Ad sechs: Umarmung Olga.
Lena lässt sich mit der Antwort Zeit. Der ›Schimmelreiter‹ war Schullektüre und quälend. Sie liest in der Novelle, bis ihr Figuren und Sprache vertraut sind und die Schullektüre vergessen ist. Das Drama um den besessenen Sturkopf Hauke Haien gefällt ihr, der Kunstgriff, die Geschichte von drei Erzählern vortragen zu lassen, reizt sie als Übersetzerin. Storms Natur begegnet ihr vor der Haustür, und dass sich auf einer verlassenen Hallig im Mondschein weiße Knochen zu einem bleichen Pferd zusammensetzen, glaubt sie sofort. Liebste Olga, schreibt sie, schick den Vertrag.
Frühmorgens, wenn Heiner im Schlaf ›Komm wieder, Lena‹ murmelt, die Hände nach ihr ausstreckt, als wolle er sie festhalten und in derselben Sekunde wieder einschläft, verlässt sie das Haus, geht durch die Felder ans Meer. Die Schafe, zum Blöken zu müde, öffnen träge die Augen. Lena wird von einer Wolke aus Geräuschen begleitet. Von heiseren Krähen und zirpenden Spatzen, vom hungrigen Ruf der Austernfischer und den immer verärgerten Schreien der Möwen.
Für Fremde sieht es aus, als würde Lena singen, wenn sie sich halblaut den Klang der Stormschen Sprache aneignet. Je genauer sie die Melodie versteht, desto feiner kann sie übersetzen.
»Das Ende! sprach er leise vor sich hin; dann ritt er an den Abgrund, wo unter ihm die Wasser, unheimlich rauschend, sein Heimatdorf zu überfluten begannen; noch immer sah er das Licht von seinem Hause schimmern; es war ihm wie entseelt. Er richtete sich hoch auf und stieß dem Schimmel die Sporen in die Weichen; das Tier bäumte sich, es hätte sich fast überschlagen; aber die Kraft des Mannes drückte es herunter. Noch ein Sporenstich; ein Schrei des Schimmels, der Sturm und Wellenbrausen überschrie; der Mond sah leuchtend aus der Höhe; aber unten auf dem Deiche war kein Leben mehr als nur die wilden Wasser.«
Lena spricht zum Wasser. Das Meer hat große Ohren. Der Morgen ist sanft, fast ohne Wind. Während sie den Text zitiert, sieht sie einer Möwe zu, die versucht, einen fetten Wurm aus dem Watt zu zerren, der sich immer wieder entzieht, als sei er aus Gummi. Lena kennt keinen deutschen Autor, außer Thomas Mann, der das Semikolon so liebt und so freigiebig benutzt wie Theodor Storm. Acht Semikola in drei Sätzen, nie sind ihr in einem Text so viele Strichpunkte begegnet. Sie hat in deutscher, polnischer, englischer Literatur geblättert – dreihundert Seiten, vierhundert Seiten, selbst in Romanen mit tausend Seiten hat sie kein einziges Semikolon gefunden. Das Satzzeichen ist vom Aussterben bedroht. In einer modernen Grammatik entdeckt sie den Befehl: Niemals Semikolon! Das kleine Zeichen wächst ihr ans Herz. Es trennt gleichberechtigte Sätze stärker als das Komma und schwächer als der Punkt. Es ist wie eine Verlobung – mehr als befreundet und weniger als verheiratet. Es gibt den Sätzen eine andere Melodie als der endgültige, rabiate Punkt. Wenn das Setzen eines Semikolons nicht Pflicht ist, dann ist es die Kür, in der man glänzen kann. Auf der Suche nach dem Strichpunkt in der Literatur gibt ihr Goethe recht: Iss, was gar ist; trink, was klar ist; sprich, was wahr ist; lieb, was rar ist! Auf dem Heimweg nimmt sie den ›Schimmelreiter‹ aus der Manteltasche und liest den Abschnitt, den sie noch nicht auswendig kennt und der, hätte Storm ihm keine Semikola gegeben, einen anderen Rhythmus hätte. Starrer, weniger geschmeidig, nicht so, wie sich Wellen wiegen.
»Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond sein karges Licht herabließ, glaubte ich, eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an.«
Die Kirchturmuhr schlägt acht, Lena kehrt um. Brötchen holen im Kaufmannsladen, zwei Mohn, zwei Kümmel, Frühstück machen. Die Nachbarn, die nicht wissen, womit sich das Paar die Zeit vertreibt, haben ihnen Namen gegeben. Heiner ist ›der wandernde Mann‹, Lena ›die singende Frau‹.
Als Heiner an diesem Abend an der Pappel lehnt, stellt sich der alte Schneider neben ihn.
Moin.
Moin, sagt Heiner.
Darf ich?
Heiner nickt. Der alte Schneider zündet sich eine Zigarette an, er
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