Der Schrecken verliert sich vor Ort
Elise. Lena fragte: Gefällt dir der Stall? Willst du Kühe halten?
Keine Nummern im Stall, sagte er, die hatten richtige Namen.
Sie sahen Häuser mit morschen Dächern und Katen mit schimmeligen Wänden. Im Haus der alten Tante Käthe platzte das Wasserrohr, als der Makler die Tür aufschloss. Das Nachbarhaus hätten sie für wenig Geld haben können, wenn sie Arthur übernommen hätten. Arthur war neunzig, der alte Mann schaute sie an wie ein Kind, das adoptiert werden wollte. Falscher Jahrgang, sagte Heiner. Der Makler zeigte ihnen das Gelände, auf dem im Krieg das Lager des RAD für Deicharbeiter gestanden hatte. Natürlich gehörte in Zofias Landschaft ein Lager des Reichsarbeitsdienstes.
Stur kreiste Heiner um die große Warft mit den trutzigen Häusern, der Kirche und dem Dorfplatz in der Mitte, auf dem die Tiere zusammengetrieben werden, wenn die Sturmflut kommt. Sechzig Einwohner, vierzehn Höfe, in der Nähe einer Warft könnte er leben.
Sie fuhren zurück in das Haus am Wald, machten sich noch zwei Mal auf den Weg nach Norden bis plötzlich, wie über Nacht aus dem Boden geschossen, das Haus vor ihnen stand, nach dem sie suchten. Reet auf dem Dach, ein helles Zimmer für die Couch, die Bücherwand, den Fernsehapparat und die Kuckucksuhr. Zwei Gästezimmer im ersten Stock, ein Arbeitszimmer für Lena und neben der Küche eine Speisekammer, die Heiner bis unter die Decke mit Vorräten füllen konnte. Warum dieses Haus, fragte der Makler. Lena sagte: Weil es auf uns wartet.
Die Menschen auf der Warft haben sich an den wortkargen Mann gewöhnt, der ihre Art des Grüßens übernommen hat. Moin, sagt er morgens, Moin sagt er mittags und, wie alle hier, auch abends. Hin und wieder ein knapper Satz über Regen und Wind, im Herbst über die Ernte, das reicht für eine angenehme Temperatur zwischen dem Fremden und den Einheimischen. Die Neuen sind ein angenehmes Paar. Sie drängen sich nicht in die Dorfgemeinschaft, sind nicht neugierig, besuchen Schützenfeste und Feuerwehrbälle nur, wenn man sie ausdrücklich einlädt. Heiners Spaziergänge in der Dämmerung über die Stege der Warft sind diskret, die Bewohner können nicht wissen, wie viel er wahrnimmt. Er muss nicht stehen bleiben, um den Fensterschmuck zu registrieren, Schwäne aus Holz, Porzellanhunde und gläserne Pferde, hölzerne Hexen auf langen Besen und Schildkröten, die beim leisesten Luftzug mit den Köpfen wackeln. Er weiß, wer zu welcher Stunde auf dem Sofa sitzt, wer kocht, wer mit dem stumpfen Bleistift Kreuzworträtsel löst. Alles, was er sieht, erzählt er Lena abends beim letzten Glas Wein. Schau Lena …
Heiner ist mager geblieben, die weißen Locken sind lang bis zur Schulter, er geht aufrecht, er lässt sich die Schmerzen, die seine Beine, den Rücken, die Arme und die Hände plagen, nicht anmerken, da kennt er andere Schmerzen. Er schreibt Aufsätze über die Reaktionen von ›Körper und Seele im Ausnahmezustand‹, nimmt Einladungen zu Vorträgen an, aber während er noch vor wenigen Jahren frei, mit ein paar Notizen, über ›Ideologie contra menschliches Verhalten‹ sprechen konnte oder ›Die Wahrheit des Erinnerns‹, muss er die Texte jetzt aufschreiben, Satz für Satz vom Blatt ablesen, um den Faden nicht zu verlieren. Namen vergisst er, sobald er sie gehört hat und erfindet einen Trick. Er nennt die Menschen auf der Warft nach den Nummern ihrer Häuser, um Lena erzählen zu können, wen er gesehen hat. Er wählt englische Zahlen, um nicht deutsche Nummern benutzen zu müssen. Schau Lena, auf der Fensterbank der alten Frau Eleven stehen künstliche Alpenveilchen mit dunkelgrünen Blättern. Seit ein paar Tagen liegt ein Hauch von Staub auf den Blättern, weißt du, was das bedeutet? Veränderungen.
Eine Woche später gibt es das immer blühende Veilchen nicht mehr, der Topf steht auf der Mülltonne, am Tag darauf sind die kunstvoll gerafften Gardinen abgenommen. Das ist kein Frühjahrsputz, das Haus der Frau Eleven wird auf eine junge Familie vorbereitet. Traurig, sagt Lena, die alte Frau hat das Haus geliebt. Das ist der Lauf der Dinge, sagt Heiner, heute sie, auch in unserem Haus werden eines Tages andere Menschen leben.
Muss sie ins Heim?
Und wenn? Es gibt schlimmere Transporte als den Umzug ins Altenheim – oder?
Wenn das der Maßstab ist, dann hast du wohl Recht.
Auf der Fensterbank der jungen Familie stehen nun Kräuter und Gewürze und im Steintopf Kochlöffel aus Olivenholz. Bevor er seinen Spaziergang
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