Der Schrecken verliert sich vor Ort
hält Heiner das Päckchen hin. Heiner schüttelt den Kopf, danke nein, drei auf einem Spaziergang sind genug.
Der Schneider vermeidet Sätze mit Anrede.
Von wo?
Taunus. Und selber?
Überall und nirgends. Langes Leben, langer Weg.
Heiner sieht den Schneider von der Seite an. Er ist kleiner als er, untersetzt. Gut erhalten für einen Mann, der, glaubt man den Leuten auf der Warft, an die neunzig ist.
Rauch eine mit mir.
Das Angebot kann er nicht ablehnen. Der Mann ist ein Nachbar. Heiner zieht eine Zigarette aus der Packung, der alte Schneider gibt ihm Feuer. Im Licht der weißen Flamme sieht er aus wie ein lauernder Greis.
Wie heißt du?
Je suis Einér.
Heiner weiß nicht, warum er diesen Satz sagt, den er in Frankreich geübt hat. Er ist ihm aus dem Kopf gerutscht, ohne Absicht, einfach so.
Wie heißt du?
Einer.
Der Schneider zieht an seiner Zigarette, schüttelt den Kopf, knurrt ›Moin‹ und schlurft in die Richtung der Werkstatt, die sein Zuhause ist.
Abends sitzt Heiner stumm vor dem Fernsehapparat, ohne die Nachrichten aus der Welt zu kommentieren. Er scheint gar nicht zuzuhören.
Ist dir nicht gut, fragt Lena.
Doch, doch, lass den Fernseher laufen, ich will nur eine Weile nicht sprechen. Er wickelt sich fest in die hellblaue Wolldecke und wacht erst auf, als durch das Testbild Züge fahren.
Am nächsten Morgen fragt Lena, wer der Schatten war, der an der Pappel neben ihm gestanden hatte.
Der alte Schneider.
Und?
Nichts.
Habt ihr geredet?
Er duzt mich. Rauch eine mit mir, hat er gesagt.
Ein Freund mit Nähmaschine kann nicht schaden, sagt Lena.
Ihr Haus ist von einem Meer aus leuchtendem Gelb umgeben. Rapsfelder verdecken Straßen und Wege. Den langen Pfarrer auf dem Fahrrad entdecken sie nur, weil sein schwarzer Hut über die Halme gleitet, als wolle er sie segnen. Seit der Pfarrer Heiners abendlichen Kirchgang entdeckt hat, legt er regelmäßig eine Pause bei den Rossecks ein, lässt sich Kaffee kochen und versucht, mit Heiner über den Glauben ins Gespräch zu kommen, weil doch der Mensch, den es ins Gotteshaus ziehe, ein Suchender sei.
Suchende sind wir alle, sagt Heiner, ich zum Beispiel suche die eigentümliche Stille, die es nur in Kirchen gibt.
Weil es das Haus Gottes ist.
Ich liebe diese Stille ohne Gott. Sie sitzt in den Wänden und auf den Bänken, es ist die Stille großer Räume, die ich mit Gedanken und Erinnerungen füllen kann. Die Kirche hätte sich auf das Bauen großer Räume beschränken sollen.
Ohne Gott?
Ohne Religion. Aber, Heiner lächelt –, den Gekreuzigten können Sie mir lassen. Ich schaue ihn an, um nicht zu vergessen, dass jeden Tag in jedem Land Menschen gemartert werden, denen Ihr Gott nicht beisteht.
Der Pfarrer lässt sich nicht verschrecken. Wenn ihn sein Weg am Haus von Heiner und Lena vorbeiführt, steigt er vom Rad. Die Männer beginnen, sich zu mögen. Erklären Sie mir Ihren Gott, sagt Heiner.
Mein Gott heißt Demut, sagt der Pfarrer, Demut angesichts der Unendlichkeit, mit der wir auf unserer kleinen Kugel durchs All segeln.
Die kleine Kugel, sagt Heiner, auf der ich durch das All segle, besteht zum großen Teil aus Menschen, die schreien, weil ihnen andere Menschen Schmerz zufügen. Hört Ihr ›Gott Demut‹ diese Schreie oder ist der taub?
Gott kann nicht überall sein, sagt der Pfarrer.
Wenn er nur irgendwo wäre!
Hat er nicht auch Sie gerettet?
Heiner lacht laut und lange. Mich? Wissen Sie, ich war lange mit Menschen zusammen, die Gott anflehten, die schrieen, weinten, bettelten, damit er sich zeige. Keine Gebete waren heißer und sehnsüchtiger als die meiner Freunde. Die Götter, die mich gerettet haben, heißen Leszek, Stanislaw, Mietek und Kosta.
An irgendetwas müssen Sie glauben, sagt der Pfarrer.
Wer sagt das?
Sie glauben nicht an das Gute im Menschen?
Nein, ich glaube nicht an das Gute im Menschen. Auch nicht an das Böse, auch nicht an die Macht der Liebe. Ich glaube überhaupt nicht an abstrakte Werte. Ich weiß, dass es gute Menschen gibt und dass ich welche kenne. Ich weiß, dass ich Lena liebe und Lena mich, das ist mehr Glück, als ich verdiene.
Ohne Glauben, sagt der Pfarrer, kann der Mensch nicht leben.
Halten Sie mich für tot?
Um Himmelswillen, nein – ich frage mich nur, welche Kraft Sie das Leben ertragen lässt, welchen Sinn Sie ihm geben.
Heiner bringt den Geistlichen zur Tür, sieht zu, wie er aufs Fahrrad steigt. Er legt die Hand auf den Lenker. Ein Satz für den Weg, Herr Pfarrer. Das Leben ist
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