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Der Schrecken verliert sich vor Ort

Der Schrecken verliert sich vor Ort

Titel: Der Schrecken verliert sich vor Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Held
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Spaziergang hatte Heiner den Sohn des Briefträgers entdeckt. Er saß auf der einzigen Fensterbank der Warft, auf der es keine Seesterne, keine Muscheln und Strohhexen gab. Oke beobachtet die Gartenarbeit des Nachbarn, sieht, wer das Haus verlässt, wer vom Einkauf mit großen Tüten heimkommt, wer mit wem spricht. Er unterscheidet zwischen Touristen, die nur einmal an seinem Haus vorbeigehen und Besuch, der länger bleibt. Oke registriert jede Veränderung, er wusste schneller als die anderen, dass der fremde Mann, der am frühen Abend an den Häusern und Höfen entlang spazierte, kein flüchtiger Besucher war. Der Fremde hatte seinen Hut vor ihm gezogen und sich verbeugt wie vor einem kleinen Prinzen. Oke hatte vor Freude mit den Fäusten gegen die Fensterscheibe getrommelt.
    Alles an dem Jungen ist rund. Der Kopf ist ein wenig zu groß für den kleinen Körper, auch die Augen, die niemandem ausweichen. Der ganze Kerl ist wie ein Ball. Der kleine Oke funktioniert wie ein Verstärker, hatte Heiner gesagt. Wenn ich lächele, lacht er. Wenn ich lache, kreischt er, wenn er ein weinendes Kind sieht, schreit er, als sei er verhauen worden. Von Okes Mutter weiß man nichts, es gab hier immer nur den Briefträger und den Jungen. Seit wann sein Stammplatz die Fensterbank ist? Seit der Junge krabbeln, laufen und sitzen kann, sagen die Nachbarn. Sprechen hat er nie gelernt. Bei Spielen, die er nicht stört, lassen ihn die Dorfkinder mitmachen. Verstecken ist so ein Spiel. Dabei stellt sich der Suchende mit dem Gesicht zur Wand und ruft: Eins, zwei, drei, vier, Eckstein, alles muss versteckt sein, hinter mir und vor mir gildet nicht, eins, zwei, drei – ich komme! Alle suchen sich blitzschnell ein Versteck und verharren dort lautlos, nur Oke kann die Spannung nicht aushalten und schreit und quietscht in seinem Versteck. Sie lassen ihn kreischen. Er schadet dem Spiel nicht, weil ihn niemand sucht. Ein anderes Spiel, das Heiner nicht versteht, beginnt mit einem Abzählreim: RiRaRutsch, wir fahren mit der Kutsch, wir fahren mit der Eisenbahn und du bist futsch. Wenn sie nett zu Oke sein wollen, darf er in ihrem Kreis stehen, dann ändern sie den Reim: RiRaRutsch, der Oke sitzt in der Kutsch, der Oke sitzt in der Eisenbahn und dann ist Oke futsch. Sie denken sich nichts dabei.
    Natürlich kann er die Marken haben, sagt Lena, Oke ist ein lieber Kerl.
    Er ist ein durchsichtiges Kind, sagt der Briefträger und steckt die polnischen Marken in die Posttasche.
    Wie meinen Sie das?
    Er ist wie eine Kugel aus Glas. Man sieht, was ihn bewegt.
    Lena liest den Brief im Flur. Systematisch wie ihre Bernsteinsammlungen hatte Olga den Brief in Sachgebiete aufgeteilt. Ad eins. Es gehe ihr ausgezeichnet, schreibt sie, im Übrigen gäbe es einen neuen Mann an ihrer Seite, Adam, verheiratet, zwanzig Jahre jünger, zärtlich, Interesse an Inklusen, aber das Wichtigste und damit kam sie zum zweiten Teil des Briefes, Adam sei Verleger und Historiker, und sein neues Projekt sei eine Trilogie, die sich mit der Geschichte dreier Helden beschäftige, die den gleichen Namen trügen: Schimmelreiter. Der erste Mann dieses Namens, schrieb Olga, war die Hauptperson einer dramatischen Erzählung, die an der Weichsel spielte und 1838 in einer deutschen Kulturzeitschrift in Polen erschien, dem ›Danziger Dampfboot‹. Ad zwei: Theodor Storm kannte die Geschichte, war tief beeindruckt und benutzte sie als Vorlage zu seinem Nordsee-Schimmelreiter. Der dritte Held der Trilogie, schrieb Olga, ist keine Romanfigur, sondern ein polnischer Widerstandskämpfer. Henryk Dobrzanski war ein hochdekorierter Major und berühmter Turnierreiter. Er vernichtete Nazis, wo immer er sie aufspürte. Er sprengte ihre Fahrzeuge, überfiel, jagte und erschoss sie. Himmler nannte ihn den Kopf einer hasserfüllten Bande und ließ ihn jagen. Der Mann und sein weißes Pferd waren unberechenbar. Man nannte ihn Schimmelreiter oder Schimmelmajor. Er wurde von den Nazis am 30. April 1940 ermordet, ein Schuss ins Herz. Der Mann ist in Polen eine Legende. Ad drei: Das Buch wird aus drei Geschichten bestehen, drei kühnen Reitern, drei weißen Pferden, drei toten Helden, und Adam fragt, ob du den Stormschen Schimmelreiter neu ins Polnische übersetzen möchtest. Ad vier: Wir Polen lieben die Katastrophe. Wir verehren den geschlagenen Helden und seinen mystischen Untergang, wir lieben Tapferkeit und Schmerz, überirdische Erscheinungen, polnische Aufsässigkeit und tiefe Verzweiflung, aus der

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