Der Schrecken verliert sich vor Ort
beendet, geht Heiner in die Kirche, setzt sich auf die hinterste Bank und genießt die besondere Stille, die es nur in Kirchen gibt. San Elmo steht seit sechshundert Jahren auf diesem Fleck und wurde drei Mal von der Sturmflut zerschlagen. In der Chronik steht, dass die Wassermassen, wie um die Menschen zu verhöhnen, sich auf die Tasten der Orgel stürzten und ihr unheimliche Klänge entlockten, die im Gebrüll des Sturms wie Schreie klangen. Beim Verlassen der Kirche zündet er eine Kerze an.
Es gibt einen zweiten Mann, der keinen Tag auf seinen Spaziergang verzichtet. Die Leute nennen ihn ›den alten Schneider‹. Er muss neunzig sein oder älter. Niemand kennt seinen richtigen Namen, er ist ein robuster Mann, von dem es heißt, er sei eines Tages aufgetaucht, habe die leer stehende Schmiede am Rande der Warft gekauft, renoviert und zu einer Schneiderwerkstatt ausgebaut. Man ließ ihn Hemden und Hosen flicken und als sich herumsprach, dass er geschickte Hände hatte, brachte man ihm Stoffe aus der Stadt und er nähte den Frauen Sonntagskleider und baute den Männern Anzüge. Solange er rüstig war, sagen die Leute, habe er die Buben im Fußball trainiert, er war ein leidenschaftlicher Sportler, die Jungen hingen wie Kletten an ihm. Heiner begegnet dem alten Schneider jeden Abend, immer an einer anderen Stelle. Auf dem Feldweg, der zum Wasser führt, vor der Werkstatt, die zu seinem Rundgang gehört, vor der Kirche. Der Mann löst ein diffuses Gefühl in ihm aus. Es setzt sich in die Magengrube und drückt auf das Herz. Sie gehen aufeinander zu, und dort, wo der Weg schmal wird, weicht mal Heiner, mal der alte Schneider aus. Sie murmeln ihr kurzes ›Moin‹ und gehen aneinander vorbei. Heiner bezwingt den Drang, sich umzudrehen. Er weiß, dass der alte Schneider nach ein paar Metern stehen bleibt und ihm nachsieht. Er spürt den Blick zwischen den Schulterblättern.
Bevor er den Rückweg antritt, lehnt er sich für ein, zwei Zigaretten an die hohe Pappel, die vor dem leeren Haus des verstorbenen Herrn Twenty steht. Von hier hat er einen Blick in Lenas Arbeitszimmer. Er sieht das warme Licht, und wenn sie dort nicht sitzt, denkt er sie dorthin. Warum kann man Erinnerungen nicht auslöschen? Den Schmerz, den sie bereiten, nicht töten? Er war von Martha verstoßen worden wegen der Unfähigkeit, ein normaler Mensch zu sein. Seine Tochter hätte ihn finden können, wenn sie gewollt hätte. Einmal war er auf den Namen Kaija Rosseck gestoßen, in Wien, in irgendeinem Wartezimmer beim Lesen einer Illustrierten. Dr. Kaija Rosseck, Meeresbiologin. Sein Kind. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen. Seine kleine Partisanin. Unser Christkind hatte Martha gesagt. Er riss das Interview aus der Zeitschrift und las es in einem leeren Café. Seine Hände zitterten. Warum, fragte der Reporter, beschäftigen Sie sich mit dem Zustand der Wale im Mittelmeer? Das scheint in der Familie zu liegen, hatte sie geantwortet. Auch meine Mutter hat sich, als sie jung war, um bedrohte Arten gekümmert. Und Ihr Vater? Ich habe keinen Vater. Mein Vater ist in Auschwitz geblieben.
Er hatte Kameraden gekannt, bei denen Revolver in der Schublade lagen. Es gab steile Hänge in Österreich, hohe Berge und tiefe Schluchten. Die Donau war dreitausend Kilometer lang, jeder Meter eine Einladung zum Weg ins Schwarze Meer. Es gab dicke Seile und einsame Dachböden und so ein übles Zeugs wie Phenol wäre sicher auch noch irgendwo aufzutreiben gewesen. Wenn es eine Gewissheit gibt, dann diese: Ohne Lena wäre er nicht mehr am Leben.
Lena sitzt nicht am Schreibtisch, wohin er sie denkt. Sie steht zur gleichen Zeit im Dunkeln vor der Haustür und sieht die grauen Fähnchen, die in die Äste der Pappel steigen. Er raucht heimlich, das rührt sie, aber das Rauchverbot hebt sie nicht auf. Fünf Zigaretten sind nicht fünfzig.
An einem grauen Nebeltag bringt der Postbote einen Brief, mit dem er schon aus der Ferne heftig winkt: Aus Polen, Frau Lena.
Ist das etwas Besonderes?
O ja, die Marken sind besonders groß. Oke sammelt große Briefmarken.
Lena wirft einen Blick auf den Umschlag. Die sind langweilig, sagt sie, nur ein Präsidentengesicht, die haben nicht einmal Zacken.
Umso besser, Oke kann Zacken nicht leiden, er schneidet sie ab.
Warum tut er das?
Es sind zu viele, sagt der Postbote. Er kann sie nicht zählen.
Der Brief ist von Olga aus Danzig und Lena schneidet, noch ehe sie ihn liest, die Briefmarken aus dem Umschlag.
Schon bei seinem ersten
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