Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
September 2008
Nur aus einem einzigen Grund, nämlich um seine Neugier zu befriedigen, schaute Frank Parrish am Samstagmorgen bei Marie Griffins Zimmer vorbei. Es war verschlossen, alle Lichter gelöscht, niemand zu Hause. Er wusste nicht, warum ihm dieser Umstand ein merkwürdiges Gefühl der Befriedigung verschaffte, doch diente es immerhin dazu, seine Schuldgefühle zu lindern. Er hatte vorgeschlagen, dass sie eine Auszeit voneinander nahmen, mehr um ihretwillen als aus eigenem Antrieb eigentlich, und genau das hatte sie getan. Er hatte sie in eine unangenehme Situation gebracht, ihre Position infrage gestellt – persönlich wie professionell –, und doch tat es ihm nicht leid. Das, womit er zu tun hatte, war real, höchst real, und entweder konnte sie damit umgehen, oder sie konnte es nicht. Er würde sie am Montag wieder aufsuchen und hoffte, dass er bis dahin mit seinem Fall ein Stück vorangekommen sein würde. Vielleicht würde ein Fortschritt in diesem Punkt es ihm erleichtern, sich mit anderen Fragen zu beschäftigen – wie er mit Robert und Caitlin umgehen sollte, wie er mit Clare am besten zurechtkäme. Eigentlich kam es ihm so vor, als sorgten die Probleme, die andere mit ihm hatten, für Schwierigkeiten – nicht die Probleme, die er mit sich selbst hatte. Doch solche Fragen konnten erst einmal vertagt werden. Heute, am Samstag, dem dreizehnten, würden sie mit ihren Befragungen in den South-Two-Büros beginnen und herauszufinden versuchen, ob die Jugendbehörde einen Kindermörder beschäftigte.
Radick erschien kurz vor neun Uhr, als Parrish schon die Akten zu jedem einzelnen Mädchen vorbereitet hatte. Sie wollten diese Unterlagen zu ihren Befragungen mitnehmen.
»Wie stellen Sie sich den Ablauf vor?«, fragte Radick.
»Am Anfang halten wir es möglichst einfach. Namen, Adressen, wie lange sie schon dort arbeiten, wo sie vorher beschäftigt waren. Dann fragen wir, ob sie irgendwelche dieser Mädchen kennen oder direkt mit ihnen zu tun hatten. Solche Sachen. Wenn wir so viel wie möglich aus diesen Typen herausgeholt haben, überprüfen wir jeden Einzelnen mit sämtlichen Standardverfahren – wer hat ein Vorstrafenregister, wer nicht, Sie wissen schon. Wie ich bereits sagte, gibt es jemanden beim FBI, der vielleicht bereit wäre, eine Datenbankrecherche zu den Männern durchzuführen – falls er noch dort arbeitet und gerade gute Laune hat. Für mich geht es darum, dass wir diesen Männern gegenübertreten und sehen, welche Eindrücke wir mitnehmen. Die allzu Souveränen, die Herablassenden, die Nervösen. Es muss einfach ein paar geben, die aus dem Rahmen fallen. Wir wissen, dass sowohl Karen als auch Kelly in den Tagen vor ihrem Tod Anrufe von der Jugendbehörde bekamen, und Rebecca rief ihrerseits dort an. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, aber es ist ein Anhaltspunkt, oder? Es wirkt wie Zufall, und Zufälle gehen mir gegen den Strich.«
Radick hatte keinen besseren Vorschlag und stimmte ihm zu. Kurz nach halb zehn brachen sie auf.
Marcus Lavelle hatte Wort gehalten. Er hatte ein Büro organisiert und sogar für eine Kaffeemaschine und ein paar Hefeteilchen gesorgt.
»Wir essen ausschließlich Donuts«, erklärte Parrish mit unbewegter Miene. Es dauerte einen Augenblick, ehe sich Lavelles angespannter, besorgter Gesichtsausdruck lockerte.
»Entspannen Sie sich«, sagte Parrish. »Wir sind doch keine Kieferorthopäden.«
Lavelle schenkte ihnen Kaffee ein und nahm auch selbst eine Tasse. Er setzte sich zu Parrish und Radick und erkundigte sich, wie sie vorgehen wollten.
»Fürs Erste werden wir zehn bis fünfzehn Minuten mit jedem sprechen. Wie viele Angestellte sind heute Morgen hier?«
»Sechsundzwanzig, mit mir siebenundzwanzig. Männer, meine ich. Es sind auch einige Frauen anwesend, aber ich weiß ja, dass Sie mit denen nicht sprechen möchten.«
»Möglicherweise doch«, stellte Parrish fest. »Aber dann zu einem späteren Zeitpunkt. Es hängt ein bisschen davon ab, was bei unseren ersten Gesprächen herauskommt.«
Lavelle schwieg einen Moment, und seine Finger knüpften unsichtbare Knoten. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er atmete deutlich hörbar.
»Was ist los?«, fragte Radick.
Lavelle schüttelte den Kopf.
»Wenn es etwas gibt, das wir Ihrer Meinung nach wissen sollten, Mr Lavelle …«
»Es ist nichts. Na ja, ich sage zwar ›nichts‹, aber es treibt mich doch um. Na ja, ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber es kam mir komisch vor. Obwohl
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