Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
dastanden. Sollten diese Ermittlungsansätze zu nichts führen, so stünden sie wieder ganz am Anfang.
Abends brachte Parrish die Willenskraft auf, das Clay’s zu meiden. Stattdessen sah er zwei Stunden fern. Dann zog er unter seinem Bett einen Karton mit Briefen und Fotos hervor. Robert und Caitlin als Kinder. Clare – jung und hübsch und noch ohne die feindselige Bitterkeit, die anscheinend inzwischen ihr Markenzeichen war. Auf dem Boden des Kartons fand er Fotos von sich selbst als Kind, Fotos seiner Mutter, seines Vaters, von den Abschlussfeiern an der Highschool und der Polizeiakademie.
Kurz dachte er daran, bei Caitlin vorbeizuschauen und zu versuchen, sich irgendwie zu erklären. Er stellte sich vor, wie er vor ihrer Haustür wartete, mit einem Gefühl im Bauch wie ein schüchterner Teenager, der seine Partnerin zum Abschlussball abholt. Zuletzt hatte er sich bei Caitlins Geburt derart verunsichert gefühlt, und davor bei Roberts, und noch weiter zurück an dem Abend, an dem er Clare seinen Heiratsantrag gemacht hatte. Allerdings war er an diesem Abend betrunken gewesen. So wie in der Nacht, als Caitlin gezeugt worden war. Verdammt, sein ganzes Erwachsenenleben war wie eine lange Autofahrt, die er überwiegend alkoholisiert bestritten hatte.
Erfüllt von Gedanken an Verlust und Einsamkeit, die ihm wie Unkraut vorkamen, das sich nur aufgrund schierer Vernachlässigung hatte ausbreiten können, fragte sich Parrish, an welcher Stelle sein Leben aus den Fugen geraten war. Man arbeitete so hart an so vielen Baustellen, man traf Entscheidungen auf der Basis dessen, was man für richtig hielt, doch in den meisten Fällen fiel das Ergebnis schlecht aus. Sicher, das Leben war nun mal nicht einfach, aber warum musste es denn so schwierig sein?
Parrish schüttelte die Versuchung ab, sich dem Trübsinn und der Nostalgie hinzugeben. Er packte die Briefe und Fotos zusammen und schob den Karton wieder unters Bett. Irgendetwas an diesem Fall war ihm tief unter die Haut gedrungen. Die Bilder zerstörter Unschuld, das Gefühl, dass jemand das Vertrauen und die Abhängigkeit dieser Mädchen ausgenutzt hatte. Denn danach sah es aus, darauf lief es hinaus. Jemand hatte etwas Bestimmtes versprochen und etwas ganz anderes getan. Jemand hatte eine Rolle vorgetäuscht, die Verantwortung und Führung bedeutete, und diese Übereinkunft verletzt. Hatte er selbst sich nicht ebenso verhalten, gegenüber Clare, gegenüber Robert, gegenüber Caitlin? Ja, sicher hatte er das, und doch hatte er niemanden ermordet. Vielleicht hatte er eine Ehe getötet, vielleicht hatte er jegliche Chance einer echten Versöhnung zwischen sich und seiner Tochter im Keim erstickt, doch er hatte keine Menschenleben ausgelöscht. Er dachte an seine Gespräche mit Marie Griffin, an die Details über seinen Vater – er fragte sich, ob John Parrish tatsächlich für die Morde an Joe Manri und Robert McMahon in jener Frühlingsnacht des Jahres ’79 verantwortlich war. Er glaubte es schon. Er war sich bereits zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt ganz sicher gewesen. Aber erst jetzt hatte er sich zugestanden, darüber nachzudenken, welche Gefühle er in diesem Zusammenhang empfand. Schuld? Nicht wegen der Morde, sondern weil er nie etwas gesagt hatte? Weil er seiner Sache sicher gewesen war und dennoch geschwiegen hatte? Nein, auch das war es nicht. Aber was dann? Es musste sich um dieselbe Frage drehen: verletztes Vertrauen; der äußere Anschein, die Last der Verantwortung auf sich zu nehmen, und dann etwas völlig Entgegengesetztes zu tun. Sein Vater, der Mann des Gesetzes, der Friedensstifter, dessen Aufgabe im Schützen und Dienen bestand … Nun, er hatte diejenigen geschützt und denjenigen gedient, denen er eigentlich das Handwerk legen sollte. Was war das, wenn nicht Verrat?
Und wo stand er selbst in diesem Spiel? Im Zentrum des Durcheinanders, für alle sichtbar, und ihm blieb nur die Entscheidung, seine Aufgabe entweder ohne Rücksicht auf die Konsequenzen durchzustehen oder Schluss zu machen, seine Sachen zu packen und abzuhauen.
Der Mann, der er stets zu sein gewünscht hatte, würde alles durchstehen. Doch was war mit dem Mann, der er wirklich war?
Um Viertel nach acht verließ Parrish seine Wohnung und ging hinüber ins Clay’s. Er sagte sich, dass er es bei einem Drink bewenden lassen würde, doch er war ein Lügner, und das wusste er gut genug, um gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, sich etwas anderes einzureden.
45
Samstag, 13.
Weitere Kostenlose Bücher