Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
wollte, brachte er den Mülleimer zum Kippen, wobei der Draht, rostig und brüchig, einfach abknickte. Der Mülleimer fiel zu Boden, der Deckel öffnete sich, und die Überreste eines weitgehend verwesten Menschenkörpers verteilten sich auf dem Bürgersteig.
Unfähig zu begreifen, unfähig, diesen Vorfall mit einem früheren Bezugspunkt in Verbindung zu bringen, dauerte es einige Augenblicke, bis George Wintergreen erkannte, was er da vor sich sah. Glücklicherweise gelang es ihm binnen fünf oder sechs Minuten, einen Streifenwagen zum Anhalten zu bewegen, dessen Insassen er beinahe wortlos zum Ort des Geschehens in die Nebengasse führte.
Der jüngere der beiden Streifenpolizisten lief im Gesicht grünlichgrau an und kehrte zum Wagen zurück, um den Vorfall zu melden; der ältere Polizist, Max Wilson, beugte sich hinab und leuchtete mit der Taschenlampe in den Mülleimer. Er entdeckte die Handtasche an dessen Boden, entdeckte, womit diese Handtasche bedeckt war, entdeckte die letzten Überreste von Flüssigkeit, Fleisch und zersetztem Gewebe, die einmal ein Mensch gewesen waren. Die Handtasche und die Größe des Mülleimers legten die Vermutung nahe, dass es sich um ein Mädchen gehandelt hatte, noch unter zwanzig Jahren. Doch er war nicht sicher und wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die Spurensicherung und der Coroner waren bereits verständigt. Gemeinsam würden sie einzuschätzen wissen, womit sie es hier zu tun hatten.
Der junge Officer, Will Rathburn, kam zurück, um sich um George Wintergreen zu kümmern. George saß auf dem Bürgersteig, vier oder fünf Meter von der umgestürzten Mülltonne entfernt, neben sich den Einkaufswagen. Sein Blick fixierte angestrengt den Boden zwischen seinen Füßen.
George roch nicht besonders gut, und Rathburn hoffte inständig, dass sie ihn nicht im Streifenwagen mit zum Revier nehmen mussten. Obwohl auch er wusste, dass er keine voreiligen Schlüsse ziehen durfte, erschien es ihm offensichtlich, dass der alte Mann bloß mit seinem Wagen die Mülltonne umgestoßen hatte. Wie lange sie dort gestanden hatte, und wessen Leiche darin lag – nun, das war Angelegenheit der Spurensicherung. Im Augenblick ging es darum, die Unversehrtheit des Fundorts zu gewährleisten und jede weitere Verunreinigung möglicher verwertbarer Spuren zu verhindern. Dazu mussten sie beide Enden der Gasse absperren und auf weitere Instruktionen warten.
Das Spurensicherungsteam und der Deputy Coroner trafen gleichzeitig ein. Sie fischten die Handtasche vom Boden der Tonne und öffneten sie. Zum Glück bestand sie aus Kunstleder, wahrscheinlich einem Material auf der Basis von Polyäthylen, auf jeden Fall wasserfest. Zwischen den Überresten von Kaugummipapier, einem unbeschädigten Handy, Augentropfen und einem einzelnen ausgepackten Kondom fanden sie ein Portemonnaie. Darin befand sich ein Schülerausweis mit einem Namen: Melissa Schaeffer, geboren am 14. 6. 1989. Ihr hübsches Gesicht blickte dem Coroner entgegen wie schon so viele Gesichter verlorener Töchter und Freundinnen. Der Mülleimer war nicht komplett luftdicht und die Verwesung so weit fortgeschritten, dass die Leiche kaum noch roch. Bei dem Versuch, den Behälter wieder aufzurichten, brach der verrostete Boden heraus. Das Ding war geraume Zeit Wind und Wetter ausgesetzt und dabei nur von dem Draht und dem Umstand zusammengehalten worden, dass niemand sich daran zu schaffen gemacht hatte. Jetzt ging es in einem ersten Schritt darum festzustellen, ob der Name auf dem Schülerausweis zu der Leiche in der Tonne gehörte. Danach würde die Polizei klären müssen, woher sie gekommen war, seit wann sie vermisst wurde und wer vielleicht noch immer nach ihr suchte. Manchmal hörte die Suche einfach auf. Manchmal ging es nur noch darum, dass irgendwo ein Detective darauf hoffte, die Antwort auf eine Frage zu finden und einen Fall abschließen zu können. In anderen Fällen kam die unermüdliche Suche nach einem Menschen zum Abschluss, wenn die schlimmsten Befürchtungen ihre Bestätigung fanden.
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Am Freitagabend verabschiedeten sich Parrish und Radick einigermaßen freundlich voneinander. Das Essen war schnell und auf beiden Seiten nicht besonders gesprächig verlaufen, und die Stunden bis zum Ende ihrer Schicht hatten sie mit dem Durchsehen von Akten, Fotos, Daten, Namen und Vermisstenberichten verbracht.
Parrishs Fazit bestand darin, dass sie, abgesehen von Lester Young und den Angestellten bei South Two, mit leeren Händen
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