Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
von irgendjemandem seltsam oder auffällig? Hat Ihr Radar irgendwas erfasst, um es mal so auszudrücken?«
Lavelle schüttelte langsam den Kopf, als wolle er die Frage beantworten, ehe er über sie nachgedacht hatte. »Ich glaube nicht. Niemand wirkte gestresst oder besorgt. Manche der Männer hatten schon einmal mit Morduntersuchungen zu tun. Eine Zehnjährige wurde von ihrem Stiefvater erschlagen, ein Junge von seiner Mutter ermordet, aber beides liegt Jahre zurück und hat nichts mit den heutigen Fällen zu tun. Ich glaube, die meisten hier sehen es so, dass die Welt dermaßen am Arsch ist, dass … na ja … dass so etwas irgendwann einfach passieren muss. Es liegt am Beruf, verstehen Sie? In Ihrem Fall ist es offensichtlich, aber es gibt auch eine ganze Menge anderer Berufe, die sich den weniger glücklichen Mitgliedern unserer Gesellschaft widmen, und hin und wieder kommt man dabei mit diesen Schattenseiten in Berührung, meinen Sie nicht? Ich denke, das ist einfach der Lauf der Dinge.«
»Gut«, sagte Parrish, inzwischen müde davon, dieselben Gedankengänge in hundert verschiedenen Ausformulierungen zu hören. »Wir brauchen jetzt Ihren vollen Namen, Ihr Geburtsdatum, die Sozialversicherungsnummer, Adresse und Ihren beruflichen Werdegang, bevor Sie hier anfingen. Dann sind wir fertig.«
Lavelle gab ihnen die gewünschten Informationen, wie alle anderen zuvor. Niemand hatte Einwände erhoben. Niemand hatte auch nur danach gefragt, ob nicht ein Anwalt oder jemand aus der Rechtsabteilung der Jugendbehörde bei dem Gespräch hätte anwesend sein müssen. Hilfsbereit, kooperativ, ernsthaft, interessiert und erkennbar bemüht, etwas Hilfreiches beizusteuern. Man vergaß oftmals zu leicht, dass die anständigen Menschen tatsächlich in der Mehrheit waren. Doch vielleicht gab es unter den Angestellten hier einen faulen Apfel; und vielleicht würden sie ihn am Montag aufspüren.
Parrish und Radick dankten Lavelle. Sie reichten ihm die Hand, und er blieb zurück, um das Licht auszuschalten und das Gebäude abzuschließen.
»Wir müssen Young finden«, sagte Radick. »Lester Young steht auf meiner Liste ganz oben.«
Gerade als sie den Wagen erreichten, meldete sich Parrishs Pager. Es war Pagliaro, und Parrish rief ihn umgehend zurück.
»Ich bin in der städtischen Leichenhalle«, sagte Pagliaro.
»Ich glaube, wir haben deine Ausreißerin.«
47
Die spärlichen Überreste des Opfers aus der Mülltonne lagen auf dem stählernen Operationstisch. Auf einem Wagen daneben fanden sich Reste von Kleidung und persönlichen Habseligkeiten. Pagliaro griff nach der Handtasche – mit dem Handy, den Kaugummipapierchen, Augentropfen und dem Kondom –, um sie Parrish und Radick zu zeigen. Radick nahm die kleine Plastiktasche mit dem Schülerausweis entgegen.
Der Rechtsmediziner, ein jovialer, rotgesichtiger Mann Mitte vierzig, stellte sich vor.
»Andrew Kubrick«, sagte er und fügte grinsend hinzu: »Nicht verwandt mit Stanley.«
»Wen haben wir hier?«, fragte Parrish mit einem Blick auf den Schülerausweis. »Ist es tatsächlich Melissa Schaeffer?«
»Ich weiß es noch nicht«, erwiderte Kubrick. »Allerdings weiß ich mit Sicherheit, dass die Schädelmorphologie und die Größe der Oberschenkelknochen auf eine Weiße mit einer Körpergröße von ungefähr einem Meter sechzig und einem Gewicht zwischen fünfundvierzig und fünfzig Kilo hindeuten.«
Kubrick nahm den Schädel in die Hand, der schon von der Wirbelsäule abgetrennt war. »Es gibt eine verbindende Nahtstelle aus Gewebe zwischen den vorderen und seitlichen Schädelknochen. Wenn wir älter werden, schließt sich die Naht, und wie weit diese Sutur geschlossen ist, liefert uns einen Hinweis auf das ungefähre Alter. Diese junge Dame? Ich würde sagen, irgendwo zwischen sechzehn und neunzehn.«
»Irgendwelche Hinweise auf die Todesursache?«, fragte Radick.
»Strangulation«, erklärte Kubrick in nüchternem Ton.
»Woher wissen Sie das?«
»Wissen Sie, was das Zungenbein ist?«
»In der Kehle?«
Kubrick deutete auf eine Stelle an seinem Hals. »Ein hufeisenförmiger Knochen, der einzige im menschlichen Körper, der mit keinem anderen Knochen ein Gelenk bildet. Sitzt zwischen dem Kinn und dem Schilddrüsenknorpel. Ein wirklich empfindlicher kleiner Knochen, der in ungefähr dreißig Prozent aller Fälle von Strangulation gebrochen wird. Diese junge Dame wurde stranguliert, keine Frage. Es gibt keine anderen gebrochenen Knochen, keine Hinweise auf
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