Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
Fortschritt? Vielleicht. Ein Fortschritt auf dem Weg wohin? Er hatte keine Ahnung. Marie Griffin würde sich freuen, doch er tat es nicht Marie Griffin zuliebe. Vom Trinken einmal abgesehen, war da noch diese andere Sache. Das, was er gefühlt hatte, was er nicht erwartet hatte, und darüber wollte er am nächsten Morgen mit ihr sprechen. Was auch immer sie mit ihm anstellte … Man konnte es sicher auf keinen Fall als therapeutisch bezeichnen, vielleicht von dem simplen guten Gefühl abgesehen, dass er mit jemandem redete, der ihm auch zuhörte. Natürlich stellte sie zu viele Fragen. Natürlich beantwortete sie jede Antwort mit einer verdammten neuen Frage. Aber wenn er redete, war sie still. Sie unterbrach ihn nicht. Sie schien keinem festen Schema zu folgen. Vielleicht kam sie von allen Menschen, die er kannte, einem Freund am nächsten. Traurig, verdammt traurig, aber es ließ sich nicht leugnen.
Als sich die Tür öffnete und McKee die Stufen unter dem Vorbau herunterkam, erstarrte Parrish. Er zögerte eine Sekunde, dann trat er zurück und drängte sich in den Schatten der Hauswand. McKee schien auf nichts zu achten außer auf den Weg, den er einschlug. Er trug keine Jacke, nur Jeans und Pullover. Ging er aus? Parrish bezweifelte es.
Er wartete, bis McKee fünfzehn Meter zurückgelegt hatte, ehe er ihm folgte. Sie waren höchstens eine Minute gegangen, als McKee nach rechts in eine Gasse bog. Parrish wechselte die Straßenseite. Er schaute noch einmal den Weg zurück, den sie gekommen waren. Warum, hätte er nicht sagen können. Er tat es einfach. Dann betrat er zögernd die Gasse. McKee war außer Sicht. Parrish beeilte sich und erreichte das Ende der Gasse, wo sie in einen Komplex kleiner Garagen mündete. Der SUV. Hier musste McKee sein Auto abgestellt haben. Die Beleuchtung war schwach, doch Parrish hörte das metallische Geräusch eines Garagentors, das angehoben wird, und das Quietschen nicht geölter Scharniere, als es hochgeschoben wurde. Er bewegte sich langsam vorwärts. Jetzt entdeckte er die offene Garage. Er zählte. Die vierte von hinten auf der rechten Seite.
McKee trat wieder heraus und griff nach oben, um das Tor zu schließen. Eilig trat Parrish den Rückzug an. Als er die Straße erreichte, war er atemlos, unruhig und sogar ein wenig ängstlich. Er hatte sich seit einiger Zeit nicht mehr gefürchtet. Aber jetzt hatte er tatsächlich Angst. Er arbeitete immer noch auf Bewährung, er durfte noch immer nicht Auto fahren, und noch immer wurde jeder Schritt, den er bei der Arbeit tat, aufmerksam beäugt. Vielleicht hielt sogar Radick ein Auge auf ihn und berichtete nach oben, was er tat. Dabei erwischt zu werden, wie er einen möglichen Zeugen belästigte, den Verdächtigen in einem Mordfall, dabei erwischt zu werden, wie er vor dem Haus des Mannes herumlungerte und ihn zu seiner Garage verfolgte … das wäre das endgültige Aus. Noch vor Monatsende müsste er sich nach einem neuen Job umsehen.
Parrish machte sich hastig aus dem Staub. Er war bereits anderthalb Blocks entfernt, als McKee auf der Sackett Street auftauchte. Parrish nahm die U-Bahn nach Hause. Erst als er seine Wohnung erreichte, begriff er, was er tun musste, warum er es tun musste und was geschehen würde, falls er es nicht tat. Dann nämlich würde er nicht mehr in der Lage sein, mit sich selbst zu leben. Und angesichts des Umstands, dass er allein wohnte, wäre er dann tatsächlich aufgeschmissen.
Er stand unter Strom. Er wusste, dass er nicht schlafen können würde. Er ging zum Spirituosenladen und kaufte eine Flasche Bushmills. Ein Drittel davon trank er. Dann legte er sich aufs Sofa und schaute im Fernsehen eine Folge von The West Wing – Im Zentrum der Macht an.
62
Mittwoch, 17. September 2008
»Beschreiben Sie es einfach, so gut Sie können.«
»Im Prinzip ist es ganz simpel. Es war, als ob … als ob ich das Gefühl hatte, dass mich jemand braucht.«
»Aber es brauchen Sie doch ständig irgendwelche Menschen, Frank.«
»Ja, ich weiß, aber sie brauchen mich wegen meiner beruflichen Fähigkeiten. Ich bin Polizeibeamter, Detective. Ich komme irgendwohin, und die Leute glauben, ich weiß die Antwort auf alle ihre Fragen. Aber diesmal war es anders.«
»Inwiefern?«
»Nun, sie lebt allein. Mit ihren Kindern natürlich, aber soweit ich feststellen konnte, hat sie keinen Mann. Wir haben ihr Haus mit einem feinen Kamm durchforstet, ohne dass ich irgendwelche Hinweise auf einen neuen Mann gefunden hätte. Sie ist
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