Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
musste. Aber wissen Sie was? Ich hab es nie getan. Mir ist natürlich klar, dass das Trinken niemandem nützt. Und trotzdem trinke ich. Bin ich selbstzerstörerisch? Macht es mich zu einem geborenen Verlierer, wenn ich etwas tue, von dem ich weiß, dass es mir schadet und dass es mich vielleicht sogar umbringt, wenn ich es gründlich genug tue? Ja, auf jeden Fall, aber soll ich noch etwas sagen? Es ist ganz egal, denn wenn ich irgendwann den Löffel abgebe, wenn alles vorbei ist und die Lichter erlöschen, dann weiß ich, dass meine Arbeit dazu beigetragen hat, dass einige Menschen noch am Leben sind. Menschen, die vielleicht gar nicht wissen, wie nahe sie einem bösen und sinnlosen Ende gekommen waren. Manchmal sitze ich in der U-Bahn, schaue mir die Leute an und male mir aus, wer von ihnen Weihnachten nicht mehr erleben wird. Nun, der eine oder andere lebt vielleicht deshalb noch, weil ich irgendein Arschloch von der Straße geholt und dafür gesorgt habe, dass er auf sechs Quadratmetern hockt und nie wieder herauskommt.«
»Frank …«
»Wir leuchten heller als alle anderen, Marie. Das glauben wir hier wirklich. Wir müssen das glauben. Das Problem ist nur, dass wir auch die dunkelsten Schatten werfen. Diese Last müssen wir tragen, und zwar jeden Tag. Menschen leben oder sterben als Folge unserer Arbeit. So war es immer, und so wird es bleiben. Natürlich ist das eine Last, aber wir tragen sie und geben unser Bestes und lächeln dabei, so gut es geht. Im Augenblick interessiert es mich einen Scheißdreck, was mein Vater getan oder nicht getan und welchen Schaden mir das eventuell zugefügt hat. Es ist egal, und das muss ich Ihnen wirklich zugestehen, okay? Ich denke, Sie haben es geschafft, meine Aufmerksamkeit von der Vergangenheit wegzulenken und mehr auf die Zukunft zu richten. Na ja, vielleicht nicht auf die Zukunft. Was die Zukunft betrifft, ist unsereins kein Experte. Vielleicht haben Sie mir geholfen, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren, und die Gegenwart ist überall. Die Gegenwart begegnet mir auf DVDs und in Zeitschriften, in dem Übelkeit erregenden Anblick eines jungen Mädchens mit gebrochenem Hals in einem Karton hinter einem Müllcontainer. Irgendwer hat das getan. Irgendwer wird es wieder tun. Ich glaube, ich weiß inzwischen, um wen es sich dabei handelt, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass es noch einmal geschieht.«
»Und wenn Sie zusammenbrechen, Frank? Was passiert, wenn der Druck und die Verantwortung Sie die Beziehung zu Ihren Kindern kosten, Ihre körperliche und seelische Gesundheit?«
»Das ist der Job, Doktor. Das ist unsere Arbeit. Ich glaube, man nennt es Berufsrisiko.«
» Sie selbst sind das Berufsrisiko, Frank. Sie können es nur nicht erkennen.«
»Ich muss so viel anderes erkennen.«
»Nun, dann werde ich empfehlen …«
»Nichts, Marie. Sie werden gar nichts empfehlen. Ich komme morgen wieder, und vielleicht bin ich dann in einer anderen Stimmung. Aber wenn Sie irgendwas tun oder sagen, was dazu führt, dass mir der Fall entzogen wird … nun, keine Ahnung, was ich dann mache. Wenn Ihnen meine seelische Gesundheit wirklich am Herzen liegt, dann unternehmen Sie nichts, was meine Arbeit an diesem Fall torpedieren könnte. Ich bin so nah an der Wahrheit.«
»Das wollte ich nicht sagen, Frank. Verdammt, wofür halten Sie mich eigentlich? Ich wollte nur sagen, dass ich empfehlen werde, Sie nach Abschluss dieses Falls aus medizinischen Gründen eine Zeit lang bezahlt freizustellen. Ich denke, Sie sollten die Stadt einmal hinter sich lassen, vielleicht in den Norden fahren. Möglicherweise könnten Robert und Caitlin Sie begleiten. Tun Sie mal irgendwas anderes als das, was Sie seit ewigen Zeiten schon tun.«
»Na gut, darüber reden wir, wenn diese Sache erledigt ist.«
»Abgemacht?«
»Abgemacht. Und jetzt muss ich los.«
»Ich verstehe. Aber würden Sie mir zuliebe bitte auf etwas achten?«
»Und was soll das sein?«
»Nehmen Sie sich hin und wieder einen Augenblick Zeit, um sich daran zu erinnern, dass Sie noch mehr sind als ausschließlich ein Detective der Mordkommission. Denken Sie an solche Dinge wie das, was Sie mir eben über Ihre Gefühle gegenüber dieser Frau erzählt haben.«
»Und wozu soll das gut sein?«
»Lassen Sie sich überraschen. Wie Sie so richtig bemerkt haben, können wir manchmal der Macht der kleinen Dinge nicht entkommen.«
63
Parrish schickte Radick zu Erickson ins Archiv mit dem Auftrag, bei der
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