Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
sich. Endlos, Stunde um Stunde ausschließlich über sich. Wenn sie damit anfangen, andere Dinge zum Thema zu machen – externe Situationen, Dinge die jetzt passieren und nicht in der Vergangenheit liegen –, und ganz besonders, wenn sie Anteilnahme am Wohlergehen anderer zum Ausdruck bringen, dann verrät das eine Menge darüber, wie sich der Fokus ihrer Aufmerksamkeit verschoben hat.«
»Dann geht’s mir also wieder gut?«
»Frank! Hören Sie mir zu, Frank. Ich versuche, Ihnen etwas zu erklären, das vielleicht etwas Positives für Sie bedeutet, und Sie kommen mir mit einem schlauen Spruch …«
»Hören Sie, Doc, in meinen Augen ist das wirklich ganz einfach. Mein Leben ist ein beschissenes Chaos. Lassen Sie uns ehrlich zueinander sein. Ich habe gerade gestern darüber nachgedacht. Und ich wollte heute zu Ihnen kommen. Wahrscheinlich zum ersten Mal, seit wir miteinander sprechen, wollte ich wirklich kommen und Ihnen von meinen Gefühlen erzählen. Ganz einfach. Ich dachte mir: ›Mann, was ist das? Darüber könnte ich morgen mit Marie Griffin sprechen.‹ Und wissen Sie, was ich noch dachte? Ich dachte, dass das, was hier passiert, vielleicht nicht komplizierter ist als das, was abläuft, wenn man mit seinen Freunden einfach belangloses Zeug redet. Nur dass ich keine Freunde habe, verstehen Sie? Ich habe keine echten Freunde. Ich habe Arbeitskollegen, ich habe einen Partner, den ich seit ungefähr drei Stunden kenne, eine Tochter, die mich absolut schrecklich findet, und einen Sohn, der nicht mal anruft, um mir zu sagen, dass er noch am Leben ist. Dann habe ich eine Zicke in Stöckelschuhen als Exfrau, und ich habe Sie. Das ist alles. Von allen kommen Sie einem guten Kumpel am nächsten. Also erzähle ich Ihnen alles Mögliche. Ich habe über meinen Vater gesprochen, über meine Mutter, über dieses und jenes. Das ist weiter nichts Besonderes. Tatsächlich trinke ich ein bisschen weniger, allerdings glaube ich, dass es mehr damit zu tun hat, dass dieser Fall mir wirklich an die Nieren geht. Ich will unbedingt wissen, wer diese jungen Mädchen unter Drogen setzt und erdrosselt. Ich will unbedingt wissen, ob ein Snuff-Film im Umlauf ist, bei dem man zusehen kann, wie Jennifer Baumann langsam erstickt, während ihr jemand in den Arsch fickt. Und ich will wissen, welcher kranke Drecksack so etwas sehen will, während er sich einen runterholt. Das will ich, und im Augenblick ist das auch alles , was ich will …«
»Frank, hören Sie zu …«
»Nein, warten Sie eine Minute. Hören Sie mir zu. Dafür werden Sie doch bezahlt. Ich mag Sie, Doktor Griffin, und ich halte Sie für einen prima Menschen. Ich glaube, dass Ihnen die Leute etwas bedeuten und dass Sie eine wichtige Arbeit leisten. Und ich glaube außerdem, dass es für ein glückliches Leben wichtig ist, etwas Wertvolles zu leisten; ich erkenne sehr deutlich, dass Sie etwas Wertvolles leisten, jedenfalls in Ihren eigenen Augen. In meinem Beruf ist das völlig anders. Ich werde dafür bezahlt, Leute wie Richard McKee aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass es ihnen in Zukunft möglichst schlecht geht. Wenn sich jemand wie Carole Paretski besser fühlt, weil ihr perverses Arschloch von Exmann den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringt, ist das ein Nebeneffekt. Wir stehen auf verschiedenen Seiten zweier völlig unterschiedlicher Zäune. Meine Welt ist nicht Ihre, und Ihre ist nicht meine, und ich glaube auch nicht, dass viel Hoffnung besteht, dass diese Welten einander jemals begegnen können.«
»Frank, ich verstehe nicht, warum Sie plötzlich so aufgebracht und aggressiv reagieren.«
»Ich reagiere aufgebracht und aggressiv, weil ich keine Lust mehr habe, erklärt zu bekommen, was ich denke und was ich fühle, Marie. Das ist die Wahrheit, ob Sie das mögen oder nicht. Kennen Sie das Gebet, das wir hier sprechen? Es ist ganz einfach. Herr im Himmel, schenk mir noch einen einzigen Tag. So sagt man bei uns. Und auch: Unser Tag beginnt, wenn der Tag eines anderen endet. Und dass wir der Macht von Kleinigkeiten nicht entrinnen können. Die Wahrheit ist klein, und auch die Lügen sind es. Manchmal sind es die kleinsten Lügen, die uns das Leben kosten. Wissen Sie, was ich mir auch immer gern gesagt habe? Es war wie ein kleines Lied, eine Erinnerung daran, wo ich stand und in welche Richtung mein Leben lief. Ich sagte mir: Jeden Tag und in jeder Hinsicht geht’s mit mir abwärts. Das war mein Versuch, mich immer daran zu erinnern, dass ich mich ändern
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