Der Schrei der Engel: Thriller (German Edition)
’86, Caitlin dann im Juni ’88. Gute Kinder. Besser als ihre Eltern. Was für ein toller Start. Schwierigkeiten, klar, die hatte es auch gegeben, aber keine größeren, nichts Ernsthaftes. Wie es sich dann zu diesem hasserfüllten Dauerfeuer aus gegenseitigen – größtenteils unbegründeten – Beschuldigungen hin entwickelt hatte, würde er niemals begreifen. Stille Kränkungen sammelten sich an wie gesparte Pennys. Er war aggressiv, starrköpfig, ignorant und gedankenlos. Sie war oberflächlich, zynisch, misstrauisch, respektlos gegenüber seinen Freunden. Freunden … welchen Freunden?
Und dann wurde es wirklich bitter. Er war nicht in der Lage, auch nur die rudimentärsten Grundlagen des sozialen Miteinanders zu begreifen. Sie konnte nicht kochen und putzen , sie hatte keine Kultur, keine Leidenschaft . Danach, wenn die Argumente ausgetauscht waren, betranken sie sich und bumsten wie wild gewordene Teenager. Aber es war nicht mehr dasselbe, und sie beide wussten es. Beide hatten ätzende Worte benutzt, und beide hatten – keiner mit größerer Schuld als der andere – die eheliche Seifenblase zum Platzen gebracht. Die Toleranzschwelle sank auf beiden Seiten. Er hatte eine Dreizimmerwohnung auf der South Portland Avenue angemietet und eine Affäre mit einer siebenundzwanzigjährigen Anwaltsgehilfin namens Polly begonnen. Clare fing an, ihren Friseur zu bumsen, einen Halbitaliener mit Pferdeschwanz, der sie bambina nannte und dessen Fingernägel halbmondförmige Kratzer auf ihrem Hintern zurückließen.
Die späte Einsicht – wie immer der grausamste und scharfsinnigste Ratgeber – hatte ihn manch knallharte Lektion in Sachen Verantwortung gelehrt. Er hätte ein besseres Verhalten an den Tag legen sollen. Er hätte anerkennen sollen, dass seine Frau – auch wenn sie nicht bei der Mordkommission arbeitete – eine wichtige Arbeit leistete, indem sie sich um die Familie kümmerte. Gut und schön, aber für diese Erkenntnisse hatte ihm erst alles um die Ohren fliegen müssen. Bei den meisten Kerlen , hatte sie gesagt, muss man ein bisschen warten, bis sie alles vermasseln. Aber du? Bei dir muss man nicht lange warten. Du kriegst alles kaputt, bevor du überhaupt auf der Bildfläche erscheinst.
Die Ehe war im November 2001 geschieden worden, als Caitlin dreizehn und Robert zwei Jahre älter war. Sie hatten ihre Abschlusszeugnisse bekommen, waren aufs College gegangen und hatten angefangen, ihre eigenen Schritte in die Welt zu wagen. Sie waren zweifellos das Beste, was von alldem geblieben war. Sie waren der beste Teil von ihm.
Parrish erreichte die achte Etage und fühlte sich, als wäre er kurz vor dem Infarkt. Mit hämmerndem Herzen blieb er eine Weile, gegen die Wand gelehnt, stehen. Eine schwarze Frau öffnete eine der Wohnungstüren und musterte ihn von oben bis unten, als hätte er seinen Schwanz herausgeholt und damit vor ihren Augen herumgefuchtelt. Sie fragte nichts, sagte nichts, sondern schloss einfach wieder die Tür.
Er versuchte, tief durchzuatmen, ging quer durch den Etagenflur und verschaffte sich mit dem Schlüssel aus Dannys Tasche Zutritt zu seiner Wohnung. Alles andere hatte er der Beweismittelsicherung übergeben oder für die Spurensicherung an Ort und Stelle belassen.
Die Lichter brannten, und ein intensiver Geruch schlug ihm entgegen.
Sie war noch so jung, dass ihr Gesicht nicht die geringsten Anzeichen von Erschöpfung zeigte, nicht einmal ihre Augen – Augen, die ihn mit dem leisen und hoffnungsvollen Erstaunen anschauten, dem man so oft bei unerwarteten Todesfällen begegnete. Sie trug nichts außer ihrer Unterwäsche, und ihre Haut war alabasterfarben; weiß, mit dem kleinen Blaustich, der sich kurze Zeit nach dem letzten Atemzug einstellt. Was Frank Parrish wirklich überraschte, war der Umstand, dass er gar nicht überrascht war. Ein totes Mädchen auf Danny Langes Bett. Einfach so. Später sollte er sich sogar daran erinnern, dass er etwas zu ihr gesagt hatte, auch wenn er nicht mehr wusste, was.
Er zog einen Stuhl heran und blieb eine Weile still sitzen. Er schätzte sie auf sechzehn, höchstens siebzehn Jahre; heutzutage waren solche Schätzungen nicht leicht. Ihr Haar war schulterlang und fiel zu beiden Seiten ihres Gesichts herab. Sie war schön, keine Frage, und die Sorgfalt und Präzision, mit der sie Finger- und Zehennägel rot lackiert hatte, waren nicht zu übersehen. Sie war in beinahe jeder Hinsicht perfekt, abgesehen von den violetten Druckstellen unten am
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