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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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sehen? Eigentlich soll Caddy auf den Laden aufpassen, aber wenn sie sich erst mal im Atelier vergraben hat, kann man die Kasse sprengen, ohne dass sie was merkt.«
    Sie ging, und auf ihrem Weg scharwenzelte weiter der Wind um sie herum.
    Digweed sah ihr nach und sagte: »Interessant, wie Kee, solange der alte Charley Cage noch im Pfarrhaus wohnte, ihre Passion für Heimatkunde gezügelt hat.«
    »Ein Pfarrer braucht eine Frau«, sagte Dora. »Alles andere wäre gegen die Natur.«
    »Was du nicht sagst! Vielleicht solltest du dem Papst ein paar Zeilen schreiben. Ich glaub, ich geh mal rüber und seh nach Caddy.«
    Er strich sich das silbergraue Haar glatt, während er sprach, obwohl es, im Unterschied zu Kees seidiger Mähne, zu widerborstig war, um vom Wind sonderlich in Unordnung zu geraten.
    »Graue Haare sind eine Krone der Ehre, auf dem Weg der Gerechtigkeit«, sagte Dora Creed.
    »Versteht sich!«, sagte Digweed.
    Er überquerte die Straße und ging in die Galerie. Sie befand sich in der ehemaligen Dorfschmiede in einem großzügigen, hellen Raum. Oben an den Wänden drängten sich Gemälde, weiter unten Regale mit Souvenirartikeln. Hinter der unbesetzten Kasse führte eine Tür in einen schmalen, düsteren Flur. Digweed ging hinein und rief: »Caddy?«
    »Hier«, schwebte eine Stimme die steile Treppe herab.
    Digweed lief unbeschwert die Stufen hoch und trat über einen knarrenden Treppenabsatz ins Atelier. Es bestand aus zwei zusammengezimmerten Räumen mit offenem Dachstuhl und wurde von zwei riesigen Studiofenstern beleuchtet. Von oben strömte das Licht auf ein Triptychon aus Leinwänden, die fast eine ganze Wand einnahmen. Es stellte, in konventioneller Komposition, eine Kreuzigung dar, mit dem aufragenden Kreuz auf der Mitteltafel und einem Panoramablick über eine Landschaft und Gebäude, die sich weit in die Tiefe erstreckten, auf der linken und der rechten.
    Hier endete die Konventionalität. Obwohl viele Motive erst mit Bleistift skizziert waren, handelte es sich ganz eindeutig nicht um Palästina im ersten Jahrhundert, sondern um Enscombe im zwanzigsten. Und die noch gesichtslose Gestalt am Kreuz war eine nackte Frau.
    An einem Ende des chaotisch vollgestopften Raums stand Caddy Scudamore, so dunkelhaarig, wie ihre Schwester blond, und so üppig, wie ihre Schwester schlank war, vor einem Drehspiegel und betrachtete kritisch ihre schweren Brüste unter dem hinaufgeschobenen, farbverklecksten Kittel.
    »Hallo, Edwin«, sagte sie. »Die Brustwarzen sind hart.«
    »Tatsächlich«, sagte Digweed, wobei sein Blick vom Spiegelbild zum Bildnis wanderte. »Und warum auch nicht, so wie die Dinge liegen. Caddy, ich komm mit einem unmoralischen Angebot.«
    Und er schloss sorgsam die Tür hinter sich.

Vier
    »…er hielt eine ausgezeichnete Predigt – zuweilen mit ein wenig zuviel Eifer vorgetragen, der freilich nach meinem Empfinden mangelnder Lebendigkeit entschieden vorzuziehen ist, besonders, wenn er von Herzen kommt.«
    D ie Kirche der heiligen Hilda und Margaret in Enscombe, die im Norden, dort, wo das Eental allmählich zu den Mooren hin ansteigt, aus denen sich das Flüsschen speist, das Dorf von der Anhöhe aus beherrscht, hat zwei auffällige, ungewöhnliche Merkmale. Zum einen die doppelt patriotische Weihe und zum anderen den berühmten schiefen Turm, der, wenngleich er mit Pisa nicht konkurrieren kann, zweifellos Rom mehr zugeneigt ist, als es sich für eine anständige protestantische Kirche gehört.«
    (Pause für Gelächter)
    Reverend Laurence Lillingstone legte eine Pause ein, um seinem Publikum zum Lachen Gelegenheit zu geben.
    Seine Zuhörerschaft, die aus seiner eigenen Person im Wandspiegel seines Arbeitszimmers bestand, lachte dankbar. Das würden auch die Damen des Byreford and District Luncheon Club tun, so hoffte er. »Keine zu schwere Kost«, hatte Mrs. Finch-Hatton gesagt. »Sparen Sie sich die Finessen für die Historische Gesellschaft auf.«
    Er hatte zustimmend genickt und seine Enttäuschung darüber verborgen, dass der regionale Ableger ebenjener Gesellschaft soeben sein Angebot zurückgewiesen hatte, ihren Mitgliedern einen Vortrag über seinen Forschungen in den Archiven von Enscombe zu halten. »Tut mir leid«, hatte der Sekretär gesagt, »aber wir haben schon den alten Squire Selwyn mit seiner historischen Ballade im Programm. Wir wollen doch nichts überdosieren, nicht wahr?«
    Du lieber Gott! In was für einer Welt leben wir, in der ernsthafte wissenschaftliche Arbeit

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