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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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indem er dem Rat des Bischofs und dem Vorbild von Charley Cage folgte und sich in der Vergangenheit vergrub. Charley Cages chaotisches Archivmaterial zu sondieren war eine wissenschaftlich notwendige und therapeutisch wirksame Maßnahme. Wie vom Bischof vorausgesagt, hatten die Geschäftsführer der Diözese beschlossen, nunmehr das zu tun, was sie schon längst hatten tun wollen, hätten sie sich nicht an Cages Hartnäckigkeit die Zähne ausgebissen, nämlich einen modernen Bungalow zu errichten und das verschachtelte alte Pfarrhaus in private Hand zu verkaufen. Somit war Lillingstone rundherum beschäftigt. Doch an einem so kleinen Ort wie Enscombe hätten alle Geschäfte der Welt gelegentliche Begegnungen mit Caddy nicht verhindern können, und jeder Blick, den er von ihr erhaschte, führte wie ein Schlückchen Whisky beim Alkoholiker zu einem sofortigen Rückfall. Aus Angst, die physische Wirkung ihrer Gegenwart könne dem scharfen Blick der Landbevölkerung womöglich nicht verborgen bleiben, hatte er die verräterischen, eng anliegenden Jeans aufgegeben, die er sonst in seiner Freizeit bevorzugte, und auf die schützenden Falten der traditionellen Soutane zurückgegriffen, ein Schritt, der die älteren Gemeindemitglieder milde stimmte, für die ein Pfarrer auch wie ein Pfarrer aussehen sollte.
    Sein Bemühen, Caddy zu meiden, schloss ihre Schwester nicht ein. Vielmehr fand er in Kees Anmut und Gelassenheit reichlich Trost. Sie war der ruhende Pol der Scudamores, sie führte Haus und Geschäft und bestimmte, wo es langging. Und während Lillingstone nicht gewagt hätte, mit Caddy allein zu sein, verschaffte ihm Kees Gesellschaft einen blassen, aber unbedenklichen Abglanz ihrer Nähe.
    »Larry, alles in Ordnung?«
    Er wandte sich von seinem Spiegel ab und blickte Kee Scudamore ins Gesicht, die in der offenen Terrassentür stand, als hätte er sie mit seinen Gedanken herbeigezaubert. Zu seiner Erleichterung war sie allein, und er ging lächelnd auf sie zu.
    »Alles in Ordnung«, sagte er. »Ich probe nur meinen Vortrag im Luncheon Club.«
    »Tatsächlich? Na ja, wenn das eben eine rhetorische Pause war, würde ich mich in Acht nehmen. Da gibt es Damen, die werden nicht zögern, nach vorne zu eilen, um dir Mund-zu-Mund-Beatmung zu spenden.«
    »Ich glaube, du überschätzt meinen Charme«, sagte er niedergeschlagen.
    »Vielleicht«, sagte sie. »Ich bin auf dem Weg nach Old Hall und ich dachte, ich bring dir diese Urkunden hier zurück. Hochinteressant.«
    Sie stellte den Aktenordner auf seinen Schreibtisch.
    »Ich hab mir die Schenkungsurkunde ein bisschen genauer angeguckt«, sagte sie. »Was genau ist übrigens der Zehnte?«
    »Altenglisch
teopa
, mittelenglisch
tipe
, ein Zehntel oder der Zehnte«, kam prompt die Antwort. »Die spezifischere Bedeutung ist die Steuer, die ein Zehntel der agrarischen Erzeugnisse oder der Arbeit beträgt und dem Unterhalt der Geistlichen dient. Im letzten Jahrhundert war es nicht mehr praktikabel oder wünschenswert, die Erzeugnisse oder den Arbeitslohn einzusammeln, und so ging man dazu über, einen Mietzins zu erheben. Und 1936 wurde der Zehnte per Gesetz vollkommen hinfällig, außer als ganz und gar freiwillige Bezahlung. Wieso fragst du?«
    »Nur weil in der Urkunde etwas davon stand«, sagte sie ausweichend.
    Er betrachtete sie mit einem scharfen Blick und sagte: »Du hast dich doch hoffentlich nicht von den Ewiggestrigen beschwatzen lassen? Denjenigen, die glauben, das Pfarrhaus sollte nicht verkauft werden, weil es ein Geschenk von der Gemeinde war?«
    »Mir kommt es schon ein bisschen undankbar vor.«
    »Kee, das war vor zweihundert Jahren!«, sagte er unwirsch. »Und selbst wenn es erst gestern gewesen wäre, geschenkt ist geschenkt. Man behält keine Rechte.«
    »Freust du dich etwa darauf, in irgend so einen kleinen Ferienbungalow zu ziehen?«
    »Natürlich nicht. Ich liebe dieses Haus. Aber du musst zugeben, dass es absurd ist, sich als alleinstehender Mann in einem Haus dieser Größe auszubreiten. Davon abgesehen, ist es nicht meine Entscheidung. Ich habe Leute über mir.«
    »Ich dachte, du arbeitest für Gott. Tut mir leid. Wir wollen uns nicht streiten. Ich hab gesehen, dass auf deinem Zu-verkaufen-Schild ›in Verhandlung‹ steht. Jemand, den ich kenne?«
    »Indirekt, ja«, sagte er widerstrebend. »Phil Wallop.«
    »Was? Etwa der Bauunternehmer, der für Girlie die Hall renoviert? Was wird er aus dem Haus machen? Einen Massagesalon?«
    »Nein«, sagte er.

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