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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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können, bis zu der Zeit des Squires Gabriel Guillemard. Nach jahrelangem Schlingerkurs in der Zeit des Bürgerkriegs und unter Cromwell, im Vergleich zu dem der »Vicar of Bray« geradezu wie ein Fels in der Brandung erscheint, forderte er 1661 in einem Gerichtsverfahren Ländereien entlang der Een zurück, die ihm angeblich die Anhänger des Parlaments gestohlen hatten. Als ihm die juristischen Argumente und handgreiflichen Beweise ausgingen, zauberte er plötzlich diesen Mythos über den Eisvogel nebst einem Dutzend Zeugen aus dem Hut, die beschworen, dass sie ihn genau bis zur Grenze des umstrittenen Grund und Bodens hätten fliegen sehen, woraufhin er kehrtgemacht habe und noch einmal stromaufwärts geflogen sei. Die abergläubische Einfalt englischer Richter ist gar nicht hoch genug zu veranschlagen, und so gewann der Squire den Fall.
    Selwyn wusste das alles offenbar sehr genau. Er bemerkte nicht ganz zu Unrecht, dass es meinem Berufsstand nicht gut anstand, auf der wortwörtlichen Wahrheit zu bestehen, und belohnte meine Mühen mit einem weiteren Dutzend Vierzeiler!
    Ich erzähle diese Geschichten nicht, um die Guillemards wegen ihrer Hinterhältigkeit an den Pranger zu stellen, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass in einem Ort wie Enscombe die Wahl vermutlich immer genau auf eine solche führende Familie fallen würde. Wobei natürlich keine Wahl im üblichen demokratischen Sinn gemeint ist, sondern jener Prozess der natürlichen Auslese, mit dessen Hilfe alle Organismen ihr Überleben sichern. Und Enscombe ist ein höchst lebendiger Organismus, da sollte sich niemand täuschen, und ein unglaublich anpassungsfähiger noch dazu – um seines dauerhaften Fortbestands willen zu jeder Daseinsform bereit –, auch bereit, die Unwandelbarkeit mit dem Wandel zu bezahlen, ein durchtriebenes Bürschchen von einem Dorf, das nur eines von seinen Bewohnern verlangt, nämlich bedingungslose Liebe.
Fuctata non Perfecta
(ein Motto, das übrigens von einem gewissen Cuthbert Guillemard stammt, der, nach ein paar fehlgeleiteten Sympathiebekundungen für die hingerichtete Mary Stuart, zu der Überzeugung kam, das alte französische Motto der Familie,
Sanz loy, sanz foy
oder
Ohne Gesetz und Glauben
, könne zu Missverständnissen führen) –
Fuctata non Perfecta
bedeutet in Wahrheit, dass es besser ist, sich auf einem Gemälde verewigen zu lassen, als durch einen untadeligen Lebenswandel ins Menschheitsgedächtnis einzugehen.
    Und genau so ist es gekommen. Denn das Monster ist wieder los, schon seit ein paar Jahren geht es ungehindert um und verwüstet das Land. Auch diese Kreatur besitzt die Gabe der Verstellung, so dass es mal als glutäugige Frau erscheint, mal als ausdruckslos lächelnder Mann. Doch wie eh und je verrät es sich durch den Gestank von Gier und Korruption, der es umweht.
    Beten wir daher, dass es, wenn es Enscombe erreicht, uns unter unserer Tünche nicht erkennt und weiterzieht.

Eins
    »Um die Wahrheit zu sagen, hat sich das Geheimnis so weit herumgesprochen, dass es nunmehr kaum noch der Schatten eines Geheimnisses ist.«
    U nd so versammelten sich endlich die Bewohner von Enscombe zu ihrer Abrechnung.
    Die Frühlingssonne, die nicht nur geschmeichelt, sondern ihr Versprechen gehalten hatte, schwebte an ihrem Zenit in einem kornblumenblauen Himmel und verbreitete die wohlige Wärme eines schönen Hochsommertages. Eine milde Brise lupfte die Säume der blütenweißen Tischtücher, drohte aber, mit den Früchten von Dora Creeds Arbeit beschwert, keinen wirklichen Schaden anzurichten. Da gab es Pasteten und Plundergebäck, Brand- und Blätterteig, Apfeltaschen und Kirschstrudel, schinkenstrotzende und buttertriefende Brötchen, Biskuittörtchen so leicht, dass ein ordentlicher Märzwind sie glatt fortgeweht haben könnte, und Obstkuchen, so dick belegt, dass man beide Hände brauchte, um sie sich in den Mund zu schieben.
    Das einzige, was noch zwischen den Dorfbewohnern und diesem Festessen stand, war das Einsammeln der Pacht, früher einmal eine zeitraubende Angelegenheit, bei der die Schlange der Pächter sich über den Rasen bis in die Büsche hinzog, bei der dagegen in unseren mageren und effizienten Zeiten kaum noch eine Schlange zusammenkommt. Und so standen sie da und tauschten Klatsch und Grüße aus, während ihnen in Erwartung des kulinarischen Überflusses die Spucke im Mund zusammenlief, ohne dass sie ahnten, welch seltsame Kost ihnen der übermütige Genius von Yorkshire noch

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