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Der Schrei des Eisvogels

Der Schrei des Eisvogels

Titel: Der Schrei des Eisvogels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Kassettendeck mit einem Paar billiger Lautsprecher.
    Auf den zweiten Blick war es schon ein wenig beunruhigender. Die Zeitschriften handelten ausnahmslos von Kampfsport und Überlebenstraining. Und auf den Postern prangten Leute wie Mao und Che und Castro und Guzman. Für einen Studenten, der sich ein radikales Image geben wollte, mochte es Sinn machen, sich eine solche Galerie zusammenzustellen, doch Wield konnte beim besten Willen nicht sehen, dass Toke irgend jemanden zu beeindrucken suchte.
    »Deine Helden, was, Jason?«, sagte er.
    »Helden?«, wiederholte der Junge teilnahmslos, als ob ihm das Wort nichts sagte.
    »Ja, ich meine, du bewunderst das, wofür sie stehen?«
    »Weiß nich, wofür sie stehen. Einzige, was ich weiß, is, dass sie alle selber für sich sorgen konnten, von dem lebten, was der Boden abwarf, überlebten.«
    »Überlebten? Aber nicht für immer, heh?«
    »Keiner überlebt für immer.«
    Langsam gerieten sie ins Philosophieren.
    »Glaubst du«, fragte Wield, »dass da draußen jemand hinter dir her ist?«
    »Sie nicht?«, entgegnete Toke.
    »Nun ja, manchmal«, gab Wield zu. »Aber nicht so, dass ich Schutz brauche.«
    »Sie brauchen nich, was Sie schon haben. Sie sind ein Cop. Wenn Sie einer anschnauzt, haun Sie nich ab.«
    »Du schon?«
    »Wenn ’n Bauer den Fuchs anschnauzt, haut der alte Rotschwanz ab. Aber er muss zurückkommen. Muss ja was fressen, oder?«
    »Selbst wenn der Bauer mit dem Gewehr lauert?«
    Toke nickte heftig, so als sei er froh, sich endlich verständlich gemacht zu haben.
    »Und manchmal lauert der Bauer ihm gar nicht auf. Er jagt den Rotschwanz mit seinen Pferden und Hunden.«
    »Aber wir reden von einem Fuchs, Jason«, sagte Wield sanft. »Nicht von einem Menschen.«
    »Auch Menschen«, sagte Toke mit der Überzeugung eines Gläubigen. »Gucken Sie in die Glotze, da sehn Sie’s jeden Abend. Sie schießen und sie jagen. Und die ganzen Leute sitzen bloß rum und kommen um vor Hunger, weil sie keinen haben, der für sie sorgt, und sie haben keine Ahnung, wie sie selber für sich sorgen sollen.«
    »Aber wir leben in England, Jason«, insistierte Wield. »Du brauchst doch ganz bestimmt hier in Enscombe keine solche Verteidigungsmaschinerie.«
    »Klar doch, Enscombe is ganz okay, meistens jedenfalls. Aber es gibt Leute, die sind nich von hier. Irgendwer kommt immer. Da muss man aufpassen, oder sie kriegen dich, bevor du es überhaupt merkst.«
    »Wie die Polizei zum Beispiel? War Constable Bendish jemand, vor dem du dich hüten musstest?«, fragte Wield.
    Einen Moment lang war das Gesicht des Jungen von dem wahrscheinlich seltenen Wunsch beseelt gewesen, sich mitzuteilen. Doch jetzt kehrte die alte Ausdruckslosigkeit zurück.
    »Davon weiß ich nix«, sagte er.
    »Aber er ist hier hoch gekommen, um zu sehen, wo du dein Gewehr aufbewahrst, nicht?«
    »Hat gesagt, es is in Ordnung.«
    »Hab ich nicht anders erwartet. Jetzt würde ich es auch gern sehen.«
    Toke öffnete den antiken Kleiderschrank, der fast eine ganze Wand ausfüllte. Es hingen nicht viele Kleider darin, was auch ganz gut so war, denn den größten Raum nahm ein Waffenschrank aus Stahl ein. Toke holte ein Schlüsselbund unter dem Hemd hervor und machte den Schrank auf. Im Schrank waren zwei Gewehre. Eins davon war ein traditionelles doppelläufiges Gewehr, Kaliber 12. Das andere hatte einen kürzeren Einzellauf und einen Gleitverschluss. Wield betrachtete sie mit Abscheu. Die alte Binsenweisheit, wonach nicht die Waffen den Ärger machten, sondern die Menschen, die sie benutzten, ließ ihn ziemlich kalt. Waffen waren wie Autos. Man konnte nie sagen, wie ein Mann reagierte, wenn er erst einmal darüber verfügte. Er spürte den verführerischen Sog der längeren, eleganteren doppelläufigen Waffe, auch wenn er wusste, dass jemand, der Ärger machen wollte, sich eher für das hässlichere Gleitverschlussgewehr mit der größeren Durchschlagskraft entscheiden würde.
    »Du hast natürlich alle erforderlichen Papiere?«, sagte er.
    Toke kramte eine lederne Brieftasche hervor, die aussah, als hätte er sie erst kürzlich auf der Jagd erbeutet, und reichte ihm einige verkrumpelte, fleckige Dokumente. Sie schienen alle in Ordnung zu sein.
    Wield gab sie ihm zurück. Während Toke den Waffenschrank wieder abschloss, bückte sich der Sergeant, um sich ein paar Zeitschriften auf dem Boden näher anzusehen, und bemerkte die Ecke eines ledergebundenen Buchs, die unter dem Bett hervorlugte. Er zog es heraus und sah es

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