Der Schuldige: Roman (German Edition)
blickte sich in dem Zimmer um, als sehe er es zum ersten Mal. Auf dem Kaminsims stand das Foto von ihr als junger Frau mit Mann und Tochter. Daneben standen drei Fotos von Daniel, zwei in seiner Schuluniform und eines, das auf dem Markt gemacht worden war.
Daniel blieb stehen, die Hände in den Taschen. Es fühlte sich seltsam vertraut an, wieder Krach mit ihr zu haben. Es erinnerte ihn an all die anderen Male, als er ein Junge war. Er kam sich inzwischen zu groß, zu breit für solche Wut vor. Er nahm die ganze Türöffnung ein, während sie am Klavier stand. Er erinnerte sich, dass er sich vor vielen Jahren so gefühlt hatte: wütend, argwöhnisch, allein. Aber damals war er so viel kleiner gewesen. Sie konnte ihn mit ihrem Gewicht auf den Boden drücken, aber jetzt nicht mehr. Jetzt war er stärker.
»Möchtest du einen Drink?«, fragte er sie.
Minnie sagte nichts, schüttelte nur den Kopf.
»Warum nicht, ist doch ungefähr an der Zeit, oder?«
»Offensichtlich gibt es etwas, was du besprechen möchtest.«
Sie hatte diesen Ton drauf, den sie auf dem Markt für Leute benutzte, die sie nicht mochte.
»Ja, zum Beispiel, warum du mich belogen hast.«
Er fühlte wieder die Tränen in seinem Hals. Der Hund stand zwischen ihnen, sah verwirrt von einem zum anderen, wedelte mit dem Schwanz und hatte ihn kurz darauf schon wieder zwischen die Beine geklemmt.
»Du warst ein kleiner Junge. Du brauchtest Beständigkeit. Du brauchtest die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, zu lieben und zu vertrauen. Ich habe dir halt die Möglichkeit gegeben, ein oder zwei Jahre lang nicht wegzulaufen. Ich gab dir die Möglichkeit, zu sein …« Sie flüsterte. Daniel musste sich anstrengen, um sie zu verstehen.
»Mit dir zusammen zu sein?«
»Zu sein, einfach zu sein …«
»Du widerst mich an.«
Sie zuckte mit den Schultern und wischte mit der Hand über das Klavier, als wollte sie Staub entfernen.
»Was war ich denn? Nur ein Scheißersatz für sie?«
Minnie wandte sich ihm zu. Ihre Brust hob sich, aber sie sagte nichts.
»Du warst kein Ersatz. Du bist mein Sohn. Du bist mein Sohn .«
»Und du wolltest mich so dringend haben, dass du meine Mutter fünf Jahre vor ihrer Zeit sterben lassen musstest? Ich hätte sie noch einmal sehen können. Ich hätte …«
Er drückte seinen Handrücken gegen seine Nase. Sie sah ihn noch immer an.
»Was du brauchtest, war Raum, nicht an sie zu denken. Zu …«
»Was? Damit ich an dich denken konnte, Mum ?«
»Damit du ausnahmsweise einmal an dich denken konntest, ein Junge sein konntest und dich nicht um jemand anderen kümmern musstest.«
»Ach ja, war dich zu Bett zu bringen denn so anders als sie zu Bett zu bringen?«
Das ärgerte sie. Sie legte das Schutzgitter auf das Feuer und sammelte Papiere ein, die über das Sofa verstreut lagen.
»Hör doch auf«, sagte sie. Sie klang müde, als hätte sie gar keinen Kampfgeist mehr, aber sie hob ihr Kinn und sprach mit ruhiger Stimme. Die entschlossene Sanftheit darin nahm ihm alle Heftigkeit, wie sie es immer getan hatte. »Ich weiß, du bist gekränkt. Ich verstehe das. Vielleicht hätte ich es dir sagen sollen, als du zur Universität weggingst, aber ich dachte, es wäre auch wieder nicht die Zeit, dich abzulenken. Es tut mir leid, dass sie tot ist. Ich dachte, ich würde es dir vielleicht erklären, wenn du älter wärst. Du hast keine Ahnung, wie sehr du dich verändert hast, als du dich nicht mehr um sie sorgen musstest. Sieh dich einfach jetzt an. So Gott will, bist du bald Anwalt. Deine Mutter wäre stolz auf dich gewesen. Du warst ein guter, freundlicher Junge, aber du musstest frei von ihr sein, damit du ausnahmsweise einmal für dich selbst entscheiden konntest.«
Daniel sprach durch die Zähne zu ihr: »Ich bin den ganzen weiten Weg bis hierher gekommen, um dir zu sagen, ins Gesicht zu sagen, dass ich dich nie wiedersehen, nie wieder mit dir reden will. Ich möchte nicht einen Penny von dir. Ich möchte nichts mehr von dir hören. Ich hasse dich.«
Minnie stand gerade aufgerichtet da, eine Hand auf der Sofalehne. Ihr Gesicht war voll Trauer. Daniel erinnerte sich an Abende, an denen sie geweint und denselben Ausdruck in den Augen gehabt hatte. Sie schluckte mit geöffnetem Mund.
»Mein Sohn, bitte. Lass uns wieder darüber reden, wenn du dich beruhigt hast. Du bist aufgebracht. Ich möchte, dass du verstehst, warum ich es getan habe. Ich hab’s nicht für mich getan. Du verstehst nicht, wie kaputt sie dich gemacht hat. Du
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