Der Schuldige: Roman (German Edition)
Alibi für die Zeit ab drei Uhr nachmittags, das die Behauptung des Zeugen infrage stellt, er habe dich noch mal später an dem Tag gesehen, wie du dich mit Ben geprügelt hast. Aber die Staatsanwaltschaft wird argumentieren, dass das Blut und die DNA an deiner Kleidung der Beweis dafür sind, dass du ihn ermordet hast.«
Daniel blickte zu Charlotte hinüber. An beiden ihrer Hände zitterten die Ringfinger. Ihre Gedanken schienen abzuschweifen, sodass Daniel sich fragte, ob sie überhaupt zugehört hatte.
»Ich habe Ben nicht so wehgetan; ich habe nur mit ihm gespielt …«
»Ich weiß, aber irgendjemand hat ihn verletzt, verstehst du – sehr schwer verletzt –, jemand hat ihn ermordet.«
»Mord ist nicht so schlimm.«
In der Stille des Raums hörte Daniel Charlotte schlucken.
»Wir alle sterben, oder?«, sagte Sebastian und lächelte zaghaft.
»Willst du damit sagen, dass du weißt, wie Ben gestorben ist? Du kannst es mir jetzt erzählen, wenn du möchtest.« Daniel zuckte in Erwartung dessen, was der Junge sagen würde.
Sebastian neigte den Kopf zu einer Seite und lächelte wieder.
Daniel hob seine Augenbrauen, um ihn zu ermutigen. Nach ein paar Augenblicken schüttelte der kleine Junge den Kopf.
Auf seinem Notizblock notierte Daniel für Sebastian die Reihenfolge der Ereignisse, die folgen würden: von der ersten formellen Besprechung mit der Prozessanwältin bis hin zur Vorbereitung auf den Prozess.
»Nach der Beweisaufnahme werden wir eine Zeit lang auf den Prozess warten müssen. Aber du sollst wissen, dass du und deine Eltern mich während dieser Zeit trotzdem sehen und sprechen können, wenn irgendwelche Fragen auftauchen.«
»Cool«, sagte Sebastian. »Aber … wann wird der Prozess sein?«
»Nicht vor ein paar Monaten, Seb. Bis dahin haben wir jede Menge Arbeit, aber ich verspreche dir, dass wir vor dem Prozess mit dir das Gericht besichtigen.«
»Neeiiiin«, wimmerte Sebastian und schlug mit einer Hand auf den Tisch. »Ich will ihn früher. Ich will nicht hierbleiben.«
Charlotte richtete sich auf und holte tief Luft, als hätte ihr jemand eine Tasse Wasser ins Gesicht gekippt. »Aber aber, Liebling«, sagte sie, und ihre Finger flatterten auf Sebastians Haare zu.
Sebastians Augen glänzten, als wollte er gleich weinen.
»Hör zu, Seb, ich habe eine Idee«, sagte Daniel. »Wie wär’s, wenn ich uns ein paar Sandwiches holte. Was hältst du davon?«
»Ich gehe«, sagte Charlotte, die bereits aufgestanden war. Daniel bemerkte eine dunkelrote Quetschung an ihrem Handgelenk, als sie nach ihrer Handtasche griff. »Ich brauche sowieso frische Luft. Bin gleich wieder da.«
Als die schwere Tür dumpf ins Schloss fiel, stand Sebastian auf und begann, in dem Raum herumzulaufen. Der Junge war mager, mit zarten Handgelenken und mit Ellbogen, die spitz hervorstanden. Daniel fand, dass er abgesehen von allem anderen zu klein war, um zu Bens brutaler Ermordung imstande zu sein.
»Seb, hat außer dem Mann, der euch zugerufen hat, ihr solltet mit der Prügelei aufhören, noch jemand an diesem Tag im Park mit euch geredet?« Die Stühle waren am Boden festgeschraubt, sodass Daniel aufstehen musste, um Sebastian ins Gesicht zu sehen. Der Junge reichte Daniel gerade über die Taille. Ben Stokes war drei Jahre jünger als Sebastian, aber nur fünf Zentimeter kleiner gewesen.
Sebastian zuckte die Achseln. Dann schüttelte er den Kopf, ohne Daniel anzusehen. Er lehnte an der Wand, betrachtete seine Fingernägel und legte dann den Zeigefinger über den Daumen, als ahme er einen Kinderreim nach: »Incy Wincy Spider.«
»Hast du jemanden im Park bemerkt, der sich seltsam verhalten hat – hast du jemanden beobachtet, der euch beim Spielen zugesehen hat?«
Wieder zuckte Sebastian mit den Schultern.
»Wissen Sie, warum sie diesen Pulli anhat?«, fragte Sebastian. Er hielt sich die Hände vors Gesicht, sodass sich die Daumen und Zeigefinger berührten, und sah Daniel durch das Rechteck seiner Finger an.
»Was? Meinst du deine Mum?«
»Ja, wenn sie diesen Pulli anhat, heißt das, dass sie Würgemale am Hals hat.« Sebastian sah Daniel immer noch durch seine Finger an.
»Würgemale?«
Sebastian griff sich mit beiden Händen um den Hals und drückte, bis sein Gesicht rot anzulaufen begann.
»Hör auf, Seb«, sagte Daniel. Er streckte die Hand aus und zog den Jungen sanft am Ellbogen.
Sebastian ließ sich gegen die Wand fallen und lachte. »Hatten Sie Angst?«, fragte er und lächelte so breit, dass
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