Der Schuldige: Roman (German Edition)
sicher, mit wem sie redete. Er wusste nicht, wofür sie Beistand brauchten.
Er sah, dass seine Mutter kurz davor war zu weinen. Er stand auf und streichelte ihr Haar, wie sie es gern hatte. »Ist ja gut, Mum, nicht weinen.«
»Du bist immer mein starker Held, was? Wie ist es dir ergangen? Wohnst du, wo’s schön ist?«
»Ist okay.«
»Spielst du Fußball?«
»Bisschen.«
Daniel beobachtete, wie sie sich die Augen mit ihren abgekauten Nägeln rieb. An ihren Unterarmen hatte sie blaue Flecken, und er versuchte, nicht hinzusehen.
Tricia kam mit zwei Tassen Kaffee und einer Dose Saft für ihn zurück. Sie setzte sich auf das Sofa und stellte eine der Kaffeetassen vor seine Mutter.
»Bitte schön. Wie geht’s denn so, hmm?«
»Ich schaff’s nicht. Erst mal brauche ich ’ne Lulle. Haben Sie eine für mich?« Sie stand auf, griff sich in die Haare und blickte Tricia an. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie das tat; es ließ ihr Gesicht noch magerer erscheinen. »Hast du eine, Danny? Ich brauch ’ne Lulle.«
»Ich geh dir eine holen«, sagte Daniel, aber Tricia stand auf.
»Nein, bleib hier. Ich … ich gehe ein paar Zigaretten holen.«
Sie befanden sich im Amt für Sozialarbeit in Newcastle. Daniel war schon früher hier gewesen. Er hasste die nach hinten abfallenden orange-grünen Stühle und den grauen Linoleumboden. Er ließ sich jetzt in einen der Stühle plumpsen und beobachtete, wie seine Mutter hin und her lief. Sie trug Jeans und ein enges weißes T-Shirt. Er sah ihr Rückgrat und die spitzen Ecken ihrer Hüftknochen.
Mit dem Rücken zu ihm sagte sie: »Ich möchte es nicht vor ihr sagen, aber es tut mir leid, Danny. Entschuldige, dass ich so scheiße gewesen bin. Du wirst besser dran sein, ich weiß das, aber ich fühl mich einfach beschissen, wie …«
»Du bist nicht scheiße …«, fing Daniel an.
Tricia kam rein und gab seiner Mutter Zigaretten und ein Feuerzeug. »Hab ’ne halbe Packung Silk Cut von ’nem Kollegen geschnorrt. Er sagt, Sie können sie behalten.«
Daniels Mutter beugte sich über den Tisch und zündete sich die Zigarette an, indem sie die Hand schützend um sie legte, als stünde sie draußen im Wind. Sie inhalierte gierig, und Daniel sah, wie sich ihre Gesichtshaut am Schädelknochen spannte.
»Deine Mum und ich waren diese Woche im Gericht, Danny«, soufflierte Tricia.
Daniel beobachtete Tricias Gesicht. Sie sah seine Mutter mit allzu weit aufgerissenen Augen an. Seine Mutter blickte leicht schaukelnd auf den Tisch. Die Härchen an ihren Armen hatten sich aufgerichtet.
»Ich hatte meine letzte Chance, Danny. Dies ist das letzte Mal, dass ich dich sehen darf. Keine Besuche mehr; du wirst zur Adoption freigegeben.«
Daniel hörte die Wörter nicht in der richtigen Reihenfolge. Sie schwärmten auf ihn zu wie Bienen. Seine Mutter sah ihn nicht an. Sie blickte auf den Tisch, die Ellenbogen auf den Knien, und saugte zweimal an der Zigarette, ehe sie herauskriegte, was sie zu sagen hatte.
Daniel saß noch immer zusammengesackt auf dem Stuhl. Das trockene Laub in seinem Inneren veränderte seine Lage.
Tricia räusperte sich. »Wenn du achtzehn bist, hast du das Recht, wieder Kontakt aufzunehmen, falls du das möchtest …«
Es fühlte sich an, als hätte sich das Laub plötzlich an den Funken der Zigarette seiner Mutter entzündet. Daniel straffte seine Bauchmuskeln. Er sprang auf, nahm die Zigaretten und warf sie Tricia ins Gesicht. Er versuchte, ihr einen Faustschlag zu versetzen, aber sie packte seine Handgelenke. Ihm gelang ein Tritt gegen ihr Schienbein, ehe sie ihn fest auf den Stuhl drückte.
»Nicht, Danny«, hörte er seine Mutter sagen. »Du machst es für alle nur noch schwerer. So ist es am besten, du wirst sehen.«
»Nein!«, schrie er und spürte die Hitze in seinen Wangen und Haarwurzeln. »Nein!«
»Hör auf, hör auf!«, schrie Tricia. Daniel roch den Milchkaffee in ihrem Atem.
Er fühlte die Finger seiner Mutter, die ihm durchs Haar fuhren, das sanfte Kribbeln ihrer Fingernägel auf seiner Kopfhaut. Er entspannte sich unter Tricias Gewicht, und sie stand auf. Dann zog sie ihn hoch, sodass er aufrecht auf dem Stuhl saß.
»Das reicht«, sagte Tricia. »Benimm dich einfach. Denk dran, dass das auch deine letzte Chance ist.«
Daniels Mutter drückte ihre Zigarette in dem Weiß blechaschenbecher aus, der auf dem Tisch stand. »Komm her«, sagte sie, und er ließ sich auf sie fallen. Er roch die Zigaretten an den Fingern, die sein Gesicht berührten.
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