Der Schuldige: Roman (German Edition)
hineinprojiziere.
»Haben Sie Ihren Vater gern?«, fragte Sebastian, als hätte er Daniels Frage nicht gehört.
»Ich habe keinen Vater.«
»Jeder Mensch hat einen Vater, Dummkopf. Wissen Sie das nicht?«
Daniel lächelte den Jungen an. »Na ja, ich habe ihn nie ge kannt. Das habe ich damit gemeint. Er ist weggegangen, ehe ich geboren wurde.«
»War er nett zu Ihrer Mum?«
Daniel erwiderte Sebastians Blick. Er wusste, was der Junge zu sagen versuchte. Er hatte die Eltern des Jungen beobachtet und war Zeuge von Kenneths Aggressivität gegen die Mutter des Jungen gewesen. Daniel blinzelte, um sich an seine eigene Mutter zu erinnern, die so brutal quer durch ein Zimmer geschleudert worden war, dass sie sich an dem Stuhl, auf den sie fiel, einen Arm brach. Er erinnerte sich, dass er zwischen ihr und dem Mann gestanden hatte, der ihr noch einmal wehtun wollte. Er erinnerte sich an seine zitternden Beine und den Geruch von Urin.
»Hör zu, wir müssen uns an die Arbeit machen. Wo wir jetzt wieder zusammenarbeiten, gibt es irgendetwas, woran du dich erinnerst und das du mir unbedingt erzählen musst?«
Sebastian sah Daniel an und schüttelte den Kopf.
»Wir sind jetzt allein. Ich bin dein Anwalt, und du bist mein Mandant. Du kannst mir alles erzählen, aber ich werde kein Urteil über dich fällen. Ich muss in deinem besten Interesse handeln. Gibt es irgendetwas von dem Sonntag, an dem du mit Ben gespielt hast, was du mir erzählen möchtest? Wenn ja, ist jetzt die Zeit dazu. Spätere Überraschungen mögen wir nicht.«
»Ich habe Ihnen alles erzählt, absolut alles.«
»Gut, okay, ich werde mein Bestes versuchen, um dich hier rauszuholen.«
Man hörte den magnetischen Klang von Metall, das sauber zusammenschnappte, als die elektronische Tür entriegelt wurde. Charlotte kam in einem Wirbel von Entschuldigungen und klingelnden Armreifen in den Raum. Sie zog Sebastians Kopf vorsichtig zu sich heran und küsste ihn seitlich auf die Stirn.
»Tut mir leid, der Verkehr war ein Albtraum!«, rief sie, löste ihr lilafarbenes Seidentuch und schlüpfte aus ihrer Jacke. »Und dann diese verdammten Hunde beim Sicherheitscheck. Sie machen mir Angst. Mir kam’s wie eine Ewigkeit vor, bis ich durch war.«
»Mum mag keine Hunde«, sagte Sebastian.
»Ist in Ordnung«, sagte Daniel. »Ich wollte eben mit Sebastian durchgehen, was jetzt geschehen wird.«
»Fabelhaft, schießen Sie los«, sagte Charlotte mit einer sonderbar angestrengten Begeisterung. Sie trug einen Rollkragenpulli, dessen Ärmel sie sich in einem fort über die Hände zog.
»Tja, wir haben in den nächsten Monaten viel Arbeit vor uns, um dich auf den Prozess vorzubereiten, und es gibt eine Reihe anderer Leute, die du kennenlernen und mit denen du sprechen musst … Wir werden einen Termin mit einem Psychologen vereinbaren, der dich besuchen kommt, und dann kannst du dich in etwa einer Woche wieder mit der Prozessanwältin treffen, die deine Aussage vor Gericht vertreten wird. Kannst du mir folgen?«
»Ich denke ja. Aber was wird der Psychologe tun?«
»Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Er will nur sehen, ob du dem Prozess gewachsen bist. Er ist unser Zeuge, vergiss das nicht, also musst du dir keine Sorgen machen, okay? – Was ich dir heute erläutern wollte, ist das Vorgehen der Anklage gegen dich – das heißt, die Argumente, die man vorbringen wird, um zu beweisen, dass du Ben getötet hast. Die Unterlagen dazu haben wir erst vor Kurzem erhalten, und ich bin dabei, deine Verteidigung auf dem aufzubauen, was die Anklage gegen dich anführt … Wenn du irgendetwas nicht verstehst, sag es mir.«
»Es ist glasklar«, sagte Sebastian.
Daniel machte eine Pause, während er den Jungen beobachtete. Als Kind war er fast in Sebastians Lage geraten – aber dessen Selbstvertrauen hatte er nie gehabt.
»Der Hauptbeweis gegen dich ist, dass du zwar behauptest, du hättest mit Ben nur gespielt und er sei gestürzt und habe sich wehgetan, während du mit ihm zusammen warst, dass aber Bens Blut an deinen Kleidern und Schuhen ist.«
»Das ist überhaupt kein Problem«, sagte Sebastian mit plötzlich leuchtenden, wachen Augen.
»Inwiefern?«
»Na ja, weil man sagen kann, dass das Blut und so weiter an meine Sachen gekommen ist, weil er sich selbst verletzt hat …«
Es entstand eine Pause. Sebastian begegnete Daniels Blick, dann nickte er einmal.
»Wir werden argumentieren, dass Ben gestürzt ist und sich verletzt hat, und wir haben deine Mum als
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