Der Schuldige: Roman (German Edition)
Daniel sehen konnte, dass ihm ein Zahn fehlte.
»Ich möchte nicht, dass du dir wehtust«, sagte Daniel.
»Ich hab’s Ihnen nur zu zeigen versucht«, sagte Sebastian und setzte sich wieder an den Tisch. Er wirkte müde, nachdenklich. »Wenn er sich über irgendwas ärgert, drückt er ihr manchmal den Hals zu. Daran kann man auch sterben, nicht? Wenn man zu fest zudrückt.«
»Sprichst du von deiner Mum und deinem Dad?«
Man hörte, wie die Tür entriegelt wurde. Sebastian beugte sich über den Tisch, verdeckte seinen Mund mit einer Hand und flüsterte: »Wenn man den Kragen ihres Pullis runterzieht, sieht man die Male.«
Charlotte kam mit den Sandwiches herein, und Daniel bemerkte, dass er sie genauer betrachtete, als sie die Tüte mit den Speisen und Getränken auspackte. Er blickte zu Sebastian hinüber, der sich gerade ein Sandwich aussuchte. Besser, wenn ich dort bin, erinnerte er sich, von dem Jungen gehört zu haben. Daniel verspürte erneut ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit dem Jungen. Er erinnerte sich, dass seine eigene Mutter die Hände eines Mannes um ihren Hals gehabt hatte. Er erinnerte sich, wie verzweifelt er als Kind gewesen war, isoliert von ihr, außerstande, sie zu schützen. Es hatte ihn zu schrecklichen Dingen getrieben.
12
Früher Morgen, und Daniel war im Hühnerstall.
Der erste Bodenfrost des Herbstes, und seine Finger waren steif vor Kälte. Der Tag lief für ihn träge an, und er inhalierte den Gestank des Stalls, der frostig kalt war, aber erwärmt durch Federn und Stroh. Minnie schlief noch. Er hatte sie über das Klingeln ihres Weckers hinweg schnarchen hören, als er die Treppe hinunterstieg. Im Wohnzimmer war ein Drink auf dem Gehäuse des Klaviers übergelaufen. Er war zu einem weißen Fleck getrocknet, der auf dem Holz aussah wie eine große Brandblase.
Jetzt war er draußen, während sie besinnungslos dalag, und ging sorgfältig seinen üblichen Arbeiten nach. Ihm war merkwürdig zumute: verwaist, allein, grausam – wie ein Falke, den er eines Tages auf dem Weg zur Schule auf einem Pfahl gesehen hatte, eifrig damit beschäftigt, eine Feldmaus zu zerstückeln.
Er wusste nicht, wo seine Mutter war. Er hatte ein Gefühl, als sei sie ihm gestohlen worden.
Daniel hob ein warmes braunes Ei auf. Er war drauf und dran, es in die Pappschachtel zu legen, die sie wie immer für ihn auf der Küchenarbeitsfläche bereitgestellt hatte. Er fühlte es hart in seiner Handfläche, spürte die Verletzlichkeit des Eies. Seine Handfläche kannte die Schale und den flüssigen Dotter, den sie enthielt, das schwebende Versprechen auf ein Küken.
Fast ohne es zu wollen, sodass seine Handfläche den scharfen Knick der zerbrochenen Schale und das widerliche Fließen von Eiweiß fühlen konnte, zerquetschte Daniel das Ei. Der Eidotter rann ihm durch die Finger wie Blut.
Plötzlich verspürte er einen Schwall Hitze in Nacken und Kreuz. Er hob ein Ei nach dem anderen vom Boden auf und zerquetschte es. Klare Tropfen dieser armseligen Gewalttat tröpfelten von seinen Fingerspitzen ins Stroh.
Wie aus Protest rannten die Hühner unter lautstarkem Kreischen vor ihm weg. Daniel trat nach einer Henne, aber sie flatterte ihm wie wahnsinnig ins Gesicht. Mit von den Eiern noch immer glitschigen Fingern stürzte sich Daniel auf sie, drückte sie zu Boden und lächelte, als er fühlte, wie ihr Flügel unter seinem Gewicht brach. Er richtete sich auf seine Knie auf. Gackernd stolperte das Huhn im Kreis herum und schleifte den gebrochenen Flügel hinter sich her. Sein Schnabel öffnete und schloss sich ohne Stimme.
Heftig keuchend wartete Daniel einen Moment. Durch das Kreischen der Hühner hinter ihm richteten sich die Härchen auf seinen Armen auf. Langsam, systematisch, als legte er Socken zusammen, versuchte Daniel, dem Huhn einen Flügel auszureißen. Der offene Schnabel und die rasende Zunge entsetzten ihn, und so brach er ihm den Hals. Er stützte sich auf das Huhn und riss ihm den Kopf vom Körper.
Das Huhn war still, Blut in seinem kugelrunden Auge.
Daniel stolperte, als er den Auslauf verließ. Er fiel auf seine Ellbogen und schmierte sich das Hühnerblut von seinen Händen ins Gesicht. Er stand auf und ging ins Haus mit dem Blut an seinen Wangen; die Federn des Huhns, das er getötet hatte, klebten noch immer an seinen Turnschuhen und Fingern.
Sie war wach und füllte gerade den Wasserkessel, als er hereinkam. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, und ihr speckiger Morgenmantel hing ihr bis
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