Der Schuldige: Roman (German Edition)
aber nur, weil es eine junge Minnie zeigte – eine gute Mutter und ihre perfekte Familie. Von perfekten Familien war Daniel als Kind besessen gewesen. Er beobachtete sie in Bussen und in Parks und studierte gierig die Wechselbeziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen den Eltern selbst. Er liebte den Anblick dessen, was ihm als Kind verwehrt war.
Mit gerunzelter Stirn stellte Daniel das Foto auf den Kaminsims neben sein Newcastle-United-Bierglas.
Er knöpfte sein Hemd zu, aß sein Frühstück und war bereit, um halb sechs das Haus zu verlassen. Um sechs wäre er im Dienst. Während er sich die Zähne putzte und Akten in seine Aktentasche packte, kam ihm nachträglich eine Idee: Er ging noch einmal an den Karton und nahm den Schmetterling heraus. Er wusste nicht warum, aber er steckte ihn ebenfalls in seine Aktentasche.
Daniel kaufte sich eine Zeitung, als er an der Liverpool Street aus der U-Bahn kam. So früh war er selten im Dienst. Sogar die Zeitung fühlte sich frisch an, warm wie Brot. Er kannte eine Kaffeebar in der Nähe der Station, die sicher offen hätte. Er kaufte sich einen Kaffee, und anstatt damit direkt ins Büro zu gehen, trödelte er herum und gestattete sich den Luxus, die Zeitung zu lesen, während er an der heißen Flüssigkeit nippte.
Auf Seite vier der Daily Mail entdeckte Daniel die Überschrift »Engel des Todes« und seufzte.
Ein elfjähriger Junge wird wegen der grausigen Tötung des achtjährigen Ben Stokes in Gewahrsam gehalten, der vor über einer Woche erschlagen im Barnard Park, Islington, gefunden wurde. Die Generalstaatsanwaltschaft ( CPS ) teilte mit, sie habe der Gemeindepolizei Islington die Anweisung gegeben, gegen den Jungen Mordanklage zu erheben, der angeblich aus der Gegend ist. Ben Stokes’ Leiche war auf einem Kinderspielplatz versteckt gefunden worden.
Jim Smith, Vorsitzender des Strafgerichtshofs des CPS , sagte: »Wir haben die Polizei bevollmächtigt, einen elfjährigen Jungen wegen Mordes an dem achtjährigen Ben Stokes anzuklagen.«
Der Junge, dessen Name aus rechtlichen Gründen nicht ge nannt werden darf, erschien am Freitagmorgen zur Anhö rung vor einem Jugendgericht im Magistrates’ Court Highbury Corner und saß mit einem Sicherheitsbeamten auf der Anklage bank. Der Junge trug ein Hemd mit Schlips und einen grünen Pullover, als ihm die Anklagepunkte verlesen wurden. Während der Anhörung zeigte er keinerlei Regung. Der Junge wurde in die Untersuchungshaft zurückgebracht und wird am 23. August wieder vor Gericht erscheinen.
Der Junge, der mit seinen berufstätigen Eltern in einer wohlhabenden Gegend von Angel wohnt, war in seiner Islingtoner Grundschule wegen seines ungestümen und Unruhe stiftenden Verhaltens bekannt. Die Mutter des Jungen weigerte sich gestern, Reportern ihre Tür zu öffnen. Ben Stokes’ Eltern waren zu verstört, um mit Reportern zu sprechen, veröffentlichten aber eine Erklärung, die lautete: »Der Schmerz über den Tod unseres geliebten Sohnes hat uns überwältigt. Wir werden keine Ruhe finden, bis die verantwortliche Person vor Gericht gestellt ist.«
Das Verbrechen – das Parallelen zur Ermordung des Kleinkindes James Bulger durch zwei Zehnjährige im Jahr 1993 aufweist – hat die Nation entsetzt. Premierminister David Cameron und die Innenministerin Theresa May haben es »scheußlich« genannt.
Daniel lockerte seine Krawatte und klemmte sich die Zeitung unter den Arm. Der Kaffee war inzwischen abgekühlt, und er trank davon auf dem Weg in sein Büro. Es hatte schon andere Artikel gegeben: kurze Notizen in der Lokalpresse zur Zeit der Kautionsverhandlung. Dieser Artikel hier war anders. Er war eine Schlagzeile.
Es fängt an , dachte er. Es fängt bereits an . Es war inzwischen hell geworden, aber der Tag roch noch jung. In seinem Magen lag wie ein Klumpen die Müdigkeit, und er fühlte sich, als könnte er sich einfach aufs Pflaster legen, seine Wange an die schmutzigen Steine schmiegen und schlafen.
Er kam als Erster zum Dienst. Die Putzfrauen waren noch da und leerten Papierkörbe und wischten Schreibtische ab. In seinem Büro trank Daniel seinen Kaffee aus, während er die Un terlagen der Anklage gegen Sebastian durchlas. Sie enthiel ten mehrere Fotos von Bens misshandeltem Körper. Das erste zeigte den Tatort selbst und Bens Gesicht, das unter dem Ziegelstein und Stöcken verborgen lag, mit denen ihm Gewalt angetan worden war, als wollte der Mörder für diesen kleinen Leichnam einen Schrein errichten.
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