Der Schuldige: Roman (German Edition)
er das Stechen der Krallen lindern.
Er hatte sie verlassen, trotzdem erschien ihr Abgang schwerwiegender. Während er sich wieder von einer Seite zur anderen drehte, fühlte er den Tod jenseits des Verlusts, den er verursacht hatte. Ihr Tod war bedrückender, dunkel wie ein Raubvogel vor dem Nachthimmel.
Zehn nach drei.
Mit offenem Mund und weit geöffneten Augen erinnerte sich Daniel daran, wie er das Huhn getötet hatte. Er erinnerte sich, wie seine Kinderhände den Vogel erdrosselt hatten, der ihr lieb gewesen war. Er setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. So saß er im Halbdunkel da, den Körper über die Knie gebeugt. Weil es nichts anderes gab, was die Situation ändern könnte, zog er seine Shorts an, schlüpfte in seine Sportschuhe und ging laufen.
Vier Uhr, als er auf seine Uhr sah. Der Frühherbstmorgen wehte warm und frisch gegen sein Gesicht. Er roch das Wasser der Fontäne, als er daran vorbeilief, und dann das taufeuchte Laub der Bäume. Das Stampfen seiner Füße auf dem Weg und die Erwärmung seiner Muskeln brachten ihn in Schwung, und er lief schneller als gewöhnlich, verlängerte seine Schritte und ließ sich von seinem Rumpf vorwärts treiben. Selbst bei diesem Tempo kamen ihm Bilder in den Sinn, wodurch er seine Konzentration verlor: Er sah wieder ihren Sarg; Minnie in ihren Gummistiefeln, die Hände auf den Hüften und mit vom Wind geröteten Wangen; Blitz, der den Kopf respektvoll neigte, wenn sie den Raum betrat; den Marktstand voll frischer Eier; sein Kindheitszimmer mit der Rosenknospentapete.
Er war wild gewesen. Wer außer Minnie hätte so ein Kind aufgenommen? Seine Sozialarbeiterin hatte ihn gewarnt. Minnie hatte für ihn gesorgt, als es niemand sonst tat.
Obwohl Daniel bereits schwer atmete, lief er noch schneller. Er fühlte Hitze in seinen Bauchmuskeln und Schenkeln. Ein Stechen fuhr ihm durch die Seite, und er lief langsamer, um ihm nachzugeben, blieb aber nicht stehen. Er nahm längere, langsamere Atemzüge, wie man es ihn gelehrt hatte, aber das Stechen blieb. In der Dunkelheit des Parks verlagerten Obdachlose auf kalten Bänken ihre Lage, und Zeitungspapier flatterte über ihre Gesichter. Sein Inneres war hin und her gerissen zwischen dem Stechen in seiner Seite und dem zögerlichen Schmerz, der sich immer dann einstellte, wenn er an Minnie dachte. Sie war die Schuldige gewesen, aber nachdem er bei ihrer Trauerfeier beschuldigt worden war, dachte er nun über seine eigene Rolle bei ihrem Tod nach. Er hatte sie schließlich mit Absicht verletzt. Ihm war bewusst gewesen, dass er sie bestrafte. Sie hatte es verdient.
Verdient . Daniel schwankte, dann ging er im Schritt weiter. Er war noch eine Meile von zu Hause entfernt. Die Nacht fügte sich einem verschämten, zurückhaltenden Glühen im Osten. Tagesanbruch. Es erschien Daniel passend, dass der neue Tag eine kleine Gewalttat sein würde. Der dunkelblaue Himmel begann, sich blutig zu färben. Er ging mit den Händen auf den Hüften, heftig atmend, und Schweiß rann ihm zwischen die Schulterblätter. Er war für den Tag nicht bereit. Er war erschöpft, bevor der Tag auch nur begonnen hatte.
Als er in seiner Wohnung ankam, schwitzte er heftig. Er trank einen halben Liter Wasser und duschte, blieb unter dem Wasserstrahl länger als üblich stehen und ließ das Wasser sich auf sein Gesicht ergießen. In seinen Adern spürte er den langsamen Puls vom Laufen, und trotzdem fühlte er sich dadurch ausnahmsweise nicht beruhigt. Sein ganzes Leben lief er schon. Er war von seiner Mutter und ihren Freunden weggelaufen. Er war von Pflegeeltern weg und zu seiner Mutter zurückgelaufen; er war von Minnie zur Universität, nach London weggelaufen. Inzwischen hatte er noch immer Lust zu laufen – er spürte noch immer das Bedürfnis danach, einen wütenden Hunger in seinen Muskeln –, aber es gab nirgendwo mehr einen Ort, zu dem er laufen wollte. Und es gab nichts, wovor er weglaufen wollte. Seine Mutter war tot und Minnie nun auch; die eine, die er geliebt, und die andere, die ihn geliebt hatte, sie waren beide tot und damit seine Liebe und der Beweis, dass er geliebt werden konnte.
Beim Anziehen öffnete er den Karton, den sie ihm hinterlassen hatte, und nahm das Foto von Minnie und ihrer Familie heraus. Warum hatte sie ihm dieses Foto hinterlassen? Verständlich waren für ihn die Fotos von ihm und Minnie am Strand, die Fotos vom Marktstand oder von der Arbeit auf der Farm. Zu diesem Foto hatte es ihn immer hingezogen,
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