Der Schuldige: Roman (German Edition)
strahlend und rasch wie die Unschuld. Er war im Gefängnis als Sohn einer cracksüchtigen Mutter zur Welt gekommen und in Pflegschaften aufgewachsen. Sie hatten hart um ihn gekämpft, aber er war schuldig, und er war schuldig gesprochen worden.
»Wenn ich ehrlich bin, war einer der Gründe, warum ich diesen Fall wollte, dass wir den Fall Tyrel verloren haben«, sagte sie.
»Ich habe ihn vor ungefähr einem Monat besucht. Er wartet auf eine Wiederaufnahme … ich bin hingefahren, um ihm zu sagen, dass es keine geben wird. Er ist richtig mager.« Daniel blickte weg.
»Und dieser hier«, fuhr Irene fort. »Ich weiß, er ist angeblich elf, aber er ist winzig … oder sehen Elfjährige so aus? Ich bin nicht auf dem Laufenden … Ich meine, zumindest sah Tyrel wie ein junger Mann aus.«
Daniel trank einen großen Schluck.
»Du musst die Sachen loslassen«, sagte er. »Ich bin sicher, von Kronanwältinnen wird nicht erwartet, dass sie sich um all dies Zeugs Gedanken machen.« Er zwinkerte ihr zu und lächelte, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. Sie blickte wieder weg, in Erinnerungen versunken.
»Gott, o Gott, was haben wir uns an dem Abend betrunken.«
Gegen Ende des Abends hatte sich Irene Kronkorken in die Augen gesteckt, um den Richter nachzuäffen, der Tyrel verurteilt hatte.
»Meine Schwester konnte nicht verstehen, warum ich hinterher so down war«, fuhr Irene fort. »Immer wieder sagte sie zu mir, aber er war doch schuldig – als wenn das zählte, als wenn das dem widerspräche, was wir zu tun versucht hatten. Ich erinnere mich an die furchtbare Angst in seinen Augen, als er verurteilt wurde. Er sah so jung aus. Ich hatte damals das dringende Gefühl, und das habe ich noch heute, dass er Hilfe brauchte, keine Bestrafung.«
Daniel fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Vielleicht sind wir im falschen Job.« Daniel lachte leichthin. »Vielleicht sollten wir in die Sozialarbeit gehen.«
»Oder in die Politik und alles auf Vordermann bringen.« Irene lächelte und schüttelte den Kopf.
»Du bist eine fantastische Anwältin, aber du wärst eine schlechte Politikerin. Dein Redeschwall wäre niemals zu stoppen. Kannst du dir dich bei Newsnight vorstellen? Du würdest schimpfen wie ein Rohrspatz. Man würde dich kein zweites Mal einladen.«
Sie lachte, aber dann versiegte ihr Lächeln. »Gott stehe Sebastian bei, sollte er unschuldig sein. Drei Monate in Untersuchungshaft bis zum Prozess sind schon für einen Erwachsenen hart genug.«
»Selbst wenn er schuldig ist, ist es hart«, sagte Daniel und trank sein Bier aus.
»Man darf gar nicht drüber nachdenken«, sagte Irene. »Meistens stehe ich hinter dem Rechtssystem. Das muss man auch, nicht wahr, in unserem Beruf. Aber wenn es um Kinder geht – selbst um Kinder, die so alt und mit allen Wassern gewaschen sind wie Tyrel –, denkt man einfach, Gott, es muss doch einen anderen Weg geben.«
»Aber den gibt es ja, England und Wales hinken dem Großteil Europas hinterher. In den meisten europäischen Ländern werden Kinder unter vierzehn Jahren nicht einmal vor ein Kriminalgericht gestellt.« Daniel legte seine Hände flach auf den Tisch, während er sprach. »In Zivilverfahren kommen Kinder vor ein Familiengericht, gewöhnlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich weiß, dass bei Gewaltverbrechen das Ergebnis oft das gleiche sein kann – langjährige Haft in Jugendarrestanstalten –, aber es geschieht als Teil von Besserungsmaßnahmen, nicht als … Freiheitsstrafe.«
»Im Vergleich zu Europa erscheinen wir mittelalterlich …«
»Ich weiß, zehn Jahre alt, und du kommst vor ein Kriminalgericht. Ich meine … zehn Jahre alt! Es erscheint absurd. In Schottland waren es noch in diesem Jahr acht. Gott, ich weiß noch, als ich acht oder zehn Jahre alt war … die Verwirrung, die Tatsache, dass man so klein ist und so … unfertig als Mensch. Wie kann man in diesem Alter für strafmündig gehalten werden?«
Irene seufzte und nickte.
»Kennst du das Strafmündigkeitsalter in Belgien?«
»Vierzehn?«
»Achtzehn Jahre. Achtzehn Jahre . Skandinavische Länder?«
»Fünfzehn.«
»Genau, fünfzehn Jahre. Und bei uns zehn! Aber was mich wirklich wütend macht, ist die Tatsache, dass es nicht um Geld oder Besitz oder irgend so ’n Scheiß geht. Grob gesagt, wie viel Prozent der Menschen, die du verteidigst, kommen aus Problemmilieus: Drogen, häusliche Gewalt …«
»Ich weiß nicht. Ich würde sagen, achtzig Prozent, gut und gerne.«
»Ich auch.
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