Der Schuldige: Roman (German Edition)
Andere Fotos, während der Obduktion aufgenommen, zeigten das volle Ausmaß der Gesichtsverletzungen: die gebrochene Nase und die zertrümmerte Augenhöhle. Das Gesicht sah nicht wie das eines Kindes aus, sondern eher wie das einer Puppe, die kaputt gemacht, zer quetscht worden war. Daniel betrachtete die Fotos mit gerunzelter Stirn.
Kurz vor neun klingelte sein Telefon, und Daniel nahm ab.
»Es ist Irene Clarke«, sagte Stephanie.
»Wunderbar, stell sie durch.«
Daniel wartete darauf, ihre Stimme zu hören. Abgesehen von einem flüchtigen Blick auf ihrer Ernennungsparty im März hatte er sie fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie waren am Abend nach Tyrels Verurteilung ausgegangen. Er erinnerte sich an ihren kleinen spöttischen Mund und ihre gewölbten Augenbrauen.
»Hallo, Danny, wie geht’s dir?«
»Wichtiger, wie geht’s dir? Wie ist das Leben als Kronanwältin? Glückwunsch zu deiner Ernennung.«
Irene lachte teilnahmslos.
»Gehst du morgen mit mir zum Pathologen?«, fragte Daniel. »Sehe gerade die Berichte durch.«
»Ja, klar. Ich rufe an, um dir zu sagen, dass wir uns am Green Park oder so treffen sollten – und zusammen hingehen.«
»Wunderbar«, sagte Daniel. »Und hinterher könnte ich dir sogar einen Drink spendieren – um auf deinen Erfolg anzustoßen.« Mit Absicht ließ er seinem Akzent mehr Raum. Er lächelte und erwartete, dass sie ihn aufziehen, in ihr bestes Wae’aye man verfallen würde.
»Ich habe so verdammt hart gearbeitet«, sagte sie, »dass ich fast alles davon vergessen habe. Aber gut, dich wiederzusehen. Ist ’ne Weile her.«
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du die Sache übernommen hast.«
»Ich musste es tun. Es weckt Erinnerungen …«, sagte sie.
»Ich weiß. Bei mir auch.«
Sie wartete am Green Park auf ihn, als er am Spätnachmittag dort ankam. Sie sah blass und müde aus, ihr Haar war oben und an den Seiten angeklatscht, als hätte sie gerade ihre Perücke abgenommen, aber ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn sah. Er küsste sie auf beide Wangen, und sie drückte seinen Oberarm und ließ die Hand auf sein Handgelenk herabgleiten, das sie eine Sekunde lang umklammerte und dann losließ. »Dannyboy, he. Du siehst gut aus.«
»Du auch«, sagte er und meinte es auch so. Trotz ihrer angeklatschten Haare und müden Augen fiel sie auf der Straße auf, während sie den Kopf neigte, um ihn mit Bewunderung zu betrachten. Irene schaffte es bei ihm immer, dass er sich gerade aufrichtete und die Schultern zurückzog.
Sie gingen die Piccadilly entlang, am Ritz vorbei und dann zur Carlton House Terrace, wo sie die Pathologin Jill Gault in ihrem Büro treffen sollten, das auf den St. James’s Park blickte.
Im Gehen roch Daniel Irenes Parfüm, selbst als vorbeifah rende Busse warme Abgaswolken in die Luft pusteten. Ihre Schritte glichen sich einander an, und Daniel war einen Moment lang durch den natürlichen Rhythmus ihres Gangs abgelenkt.
Es war später Nachmittag, aber die Sonne stand gnadenlos hoch am Himmel wie ein kritisches Auge. Das Büro der Pathologin war eine Wohltat: nicht klimatisiert, aber kühl, weil die dicken Steinmauern die Hitze des Tages ausschlossen. Sie saß hinter einem geräumigen Schreibtisch und hatte ihre Schildpattbrille in ihr lockiges rotes Haar hinaufgeschoben.
»Darf ich Ihnen Tee oder Kaffee bringen lassen?«, fragte Dr. Gault.
Daniel und Irene verneinten.
Dr. Gault öffnete einen braunen Aktenordner und zog die Brille auf ihre Nasenspitze herunter, um Ben Stokes’ Pathologiebericht nochmals überprüfen zu können.
»Ihr Bericht war sehr interessant, Dr. Gault«, sagte Daniel. »Sie sind sicher, dass die Todesursache eine akute Hirnblutung war, hervorgerufen durch einen Schlag auf die rechte Vorderseite des Kopfes?«
Dr. Gault schob ihnen eine Röntgenaufnahme über den Schreibtisch zu. Mit ihrem Kugelschreiber bezeichnete sie das Ausmaß der Blutung.
»Sie sind ganz sicher, dass das Mordwerkzeug der Back stein war, der auf dem Schauplatz des Verbrechens gefunden wurde?«, fragte Irene.
»Ja, die Konturen stimmen genau überein.«
»Ich verstehe. Berichtigen Sie mich, wenn ich mich irre«, fuhr Irene fort. »Sie haben als Zeitpunkt des Todes etwa sechs Uhr fünfundvierzig am Abend ermittelt, aber den Zeitpunkt der Gewalttat haben sie nicht feststellen können – das trifft auf diese Art von Verletzung zu?«
»Das ist richtig«, sagte Dr. Gault, ließ ihren Kugelschreiber auf den Schreibtisch fallen, legte
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