Der Schutzengel
Registrierstreifen ließ sich ablesen, daß an diesem Abend eine Zeitreise zum 10. Januar 1988 unternommen worden war: Heinrich Kokoschkas Reise in die San Bernardino Mountains, wo er Danny Packard erschossen hatte. Darüber hinaus hatte der Streifen acht Reisen ins Jahr 6 000 000 000 registriert: die fünf Männer und drei Bündel mit Versuchstieren. Ebenfalls festgehalten waren Stefans eigene Zeitreisen: zum 20. März 1944 mit den genauen Koordinaten des unterirdischen Lagezentrums am Londoner St. James’s Park, zum 21. März 1944 mit den genauen Koordinaten des Berliner Führerbunkers und das Ziel seiner letzten Reise, das er soeben eingegeben hatte – Palm Springs am 25. Januar 1989. Er riß den Registrierstreifen ab, steckte dieses Belastungsmaterial in die Tasche und spannte leeres Papier ein. Die Anzeigen des Programmierpults sprangen mit Beginn einer Zeitreise automatisch in Ausgangsstellung zurück. Die Wissenschaftler würden erkennen, daß jemand sich an dem Registriergerät zu schaffen gemacht hatte, aber sie würden glauben, das seien Kokoschka und die anderen Deserteure gewesen, die versucht hatten, ihre Spuren zu verwischen.
Stefan klappte den Gerätedeckel herunter und schlüpfte mit den Armen durch die Trageriemen des Rucksacks mit Churchills Büchern. Er hängte sich die Uzi über die Schulter und nahm die mit einem Schalldämpfer versehene Pistole vom Arbeitstisch.
Mit einem raschen Blick überzeugte er sich davon, daß er nichts zurückgelassen hatte, was seine Anwesenheit an diesem Abend hätte verraten können. Die IBM-Computerausdrucke steckten wieder zusammengefaltet in den Taschen seiner Jeans.
Und den Vexxon-Zylinder hatte er längst mit den Tieren in eine Zukunft geschickt, in der die Sonne erloschen war oder bald erlöschen würde. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er nichts übersehen.
Stefan betrat das Tor und empfand bei der Annäherung an den Übergangspunkt mehr Hoffnung, als er seit vielen Jahren zu empfinden gewagt hatte. Durch serienweise machiavellistische Manipulationen von Zeiten und Menschen war es ihm gelungen, die Zerstörung des Instituts und den Untergang des Dritten Reichs sicherzustellen – folglich würden Laura und er auch mit diesem SS-Mordkommando fertigwerden, das sich im Jahre 1989 irgendwo in Palm Springs herumtrieb.
»Nein!« kreischte Laura, gelähmt im Wüstensand liegend. Aber das Wort kam nur geflüstert heraus; sie besaß weder Atem noch Kraft genug, um es lauter hervorzustoßen.
Der Mann mit der Maschinenpistole eröffnete das Feuer auf Chris. Einen Augenblick lang war Laura davon überzeugt, daß der Junge hakenschlagend den Schußbereich verlassen habe – aber das war natürlich nur letztes verzweifeltes Wunschdenken, weil der Junge so klein war und so kurze Beine hatte. Chris befand sich sehr wohl im Schußbereich, als die Kugeln ihn fanden, eine blutige Spur über seinen schmalen Rücken zogen und ihn nach vorn in den Sand warfen, wo er in einer größer werdenden Blutlache reglos liegenblieb.
All die nicht wahrnehmbaren Schmerzen ihres ruinierten Körpers wären Laura im Vergleich zu den Qualen, die sie beim Anblick der leblosen Gestalt ihres kleinen Jungen empfand, wie kleine Nadelstiche vorgekommen. Bei keiner der Tragödien ihres Lebens hatte sie je solchen Schmerz empfunden. Es war, als kämen alle Verluste, die sie je erlitten hatte – der ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte, ihres liebevollen Vaters, Nina Dockweilers, der sanften Ruthie und Dannys –, nochmals geballt in dieser neuerlichen Brutalität, die das Schicksal ihr auferlegte, zurück, so daß Laura nicht nur den unbeschreibbaren Schmerz über den Tod von Chris empfand, sondern erneut auch die Qualen aller vorangegangenen Tode erlebte. Sie lag gelähmt im Sand: körperlich gefühllos, aber geistig Höllenqualen erleidend – nicht mehr imstande, tapfer zu sein, zu hoffen, zu sorgen. Ihr kleiner Junge war tot. Sie hatte es nicht geschafft, ihn zu retten, und mit ihm war alle Freude gestorben. Sie fühlte sich in einem kalten, feindseligen Universum schrecklich allein und erhoffte sich jetzt nur noch den Tod, unendliche Leere oder zumindest das Ende aller Sehnsucht, aller Trauer.
Sie sah den Bewaffneten auf sich zukommen.
»Erschießen Sie mich, bitte, erschießen Sie mich, machen Sie Schluß mit mir …«, sagte Laura, aber ihre Stimme war so schwach, daß er sie wahrscheinlich nicht hörte.
Was war der Sinn ihres Lebens gewesen? Wozu hatte sie alle Tragödien
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