Der Schutzengel
die vorigen. Die Verfilmung von »Endloser Fluß« kam am Thanksgiving Day in die Kinos und erzielte in der ersten Woche nach der Premiere die höchsten Einspielergebnisse aller Filme dieses Jahres.
Am 8. Januar 1988, einem Freitag, fuhren sie in dem angenehmen Bewußtsein, daß »Wind und Sterne« an diesem Sonntag zum fünften Mal die Bestsellerliste der »New York Times« anführen würde, am Nachmittag nach Big Bear, sobald Chris aus der Schule heimgekommen war. Der kommende Dienstag war Lauras 33. Geburtstag, und sie wollten ihn zu dritt vorausfeiern: hoch oben in den Bergen, mit Schnee statt dem Zuckerguß auf der Torte und dem Wind, der für Laura singen würde.
Die Hirsche hatten sich unterdessen so an sie gewöhnt, daß am Samstagmorgen ein ganzes Rudel in der Nähe des Hauses äste. Aber Chris war jetzt schon sieben, hatte in der Schule Gerüchte gehört, den Weihnachtsmann gebe es gar nicht, und neigte selbst dazu, diese Tiere für ganz gewöhnliche Hirsche zu halten.
Das Wochenende verlief perfekt, war vielleicht das beste, das sie bisher in den Bergen verbracht hatten –, aber sie mußten es vorzeitig abbrechen. Ursprünglich hatten sie am Montagmorgen um sechs Uhr abfahren wollen, um Chris direkt zur Schule zu bringen. Am späten Sonntagnachmittag zog jedoch vorzeitig ein Schneesturm auf, und obwohl sie kaum eineinhalb Stunden von den milderen Temperaturen in Küstennähe entfernt waren, sollte es in den Bergen über einen halben Meter Neuschnee geben. Um nicht eingeschneit zu werden und Chris einen Unterrichtstag versäumen zu lassen – was trotz ihres Blazers mit Allradantrieb vielleicht nicht zu vermeiden sein würde –, sperrten sie das große Haus ab und waren kurz nach 16 Uhr auf der Staatsstraße 330 nach Süden unterwegs.
Südkalifornien gehört zu den wenigen Gebieten der Welt, in denen man in weniger als zwei Stunden aus einer Winterlandschaft in subtropische Hitze fahren kann, und Laura genoß diese wunderbare Fahrt jedesmal. Die drei Packards waren mit Stiefeln, Wollsocken, Thermo-Unterwäsche, dicken Hosen, warmen Pullovern und Daunenjacken winterfest ausgerüstet, aber in eineinviertel Stunden würden sie ein milderes Klima erreichen, wo keiner mehr vermummt war, und in zwei Stunden würden die Leute wieder in Hemdsärmeln herumlaufen.
Laura fuhr den Blazer, während Danny, der neben ihr saß, mit Chris auf dem Rücksitz ein Assoziationsspiel mit Wörtern spielte, das sie auf früheren Fahrten zu ihrer Unterhaltung erfunden hatten. Rasch fallender Schnee bedeckte selbst die Straßenstücke, die auf beiden Seiten im Schutz großer Bäume lagen, und auf ungeschütztem Terrain wirbelte der Sturm Millionen von Schneeflocken über die Fahrbahn und nahm Laura manchmal fast die Sicht. Sie fuhr langsam, weil es sie nicht störte, wenn die Zweistundenfahrt nach Hause diesmal drei oder gar vier Stunden dauerte; da sie frühzeitig aufgebrochen waren, hatten sie reichlich Zeit.
Am Ausgang der großen Kurve, einige Kilometer südlich ihres Hauses, wo die knapp einen Kilometer lange Steigung begann, sah sie einen roten Jeep entgegen der Fahrtrichtung am rechten Straßenrand parken und einen Mann in einer halblangen Seemannsjacke mitten auf der Straße stehen. Er kam ihnen bergab entgegen und winkte mit beiden Armen, sie sollten anhalten.
Danny beugte sich nach vorn, kniff die Augen zusammen, um trotz der über die Scheibe holpernden Wischer klar zu sehen, und sagte: »Er scheint ‘ne Panne zu haben und Hilfe zu brauchen.«
»Packards Patrouille greift ein!« rief Chris vom Rücksitz aus.
Als Laura das Gas wegnahm, winkte der Mann ihr aufgeregt zu, sie solle an den rechten Straßenrand fahren.
»Irgendwie kommt er mir merkwürdig vor …«, sagte Danny.
Merkwürdig war der Mann tatsächlich: Er war ihr spezieller Beschützer. Sein unerwartetes Auftauchen nach so vielen Jahren ängstigte und erschreckte Laura.
Er war eben erst aus dem gestohlenen Jeep gestiegen, als der Blazer aus der Kurve am Fuß der Steilstrecke tauchte. Während er darauf zurannte, sah er, daß Laura im unteren Drittel der Steigung das Gas wegnahm und nur mehr im Schrittempo vorwärtskroch. Aber sie befand sich noch mitten auf der Straße, deshalb gab er ihr verzweifelt Zeichen, so nahe wie möglich an den rechten Straßenrand heranzufahren. Anfangs kroch sie weiter, als wisse sie nicht recht, ob er nur ein Autofahrer sei, der eine Panne hatte, oder ein gefährlicher Straßenräuber. Sobald sie jedoch so nahe heran
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