Der Schutzengel
widersprach Laura. »Not erzeugt Stehvermögen, und Leute mit Stehvermögen sind erfolgreich. Und verstehen zu überleben.«
Stefan verließ die im Schneesturm liegende Straße durch die San Bernardino Mountains und erschien im nächsten Augenblick in dem Tor am anderen Ende der Blitzstraße. Das Tor glich einemriesigen Faß, hatte Ähnlichkeit mit den auf Volksfesten beliebten rotierenden Trommeln – nur war dieser Zylinder mit poliertem Kupfer statt mit Holz ausgekleidet und drehte sich nicht. Der Zylinder war bei zweieinhalb Meter Durchmesser vier Meter lang, so daß Stefan nur wenige rasche Schritte zu tun brauchte, um ins Hauptlabor des Instituts zu gelangen, wo er zweifellos von bewaffneten Männern empfangen werden würde.
Das Labor war menschenleer.
Er blieb in seiner Seemannsjacke, an der noch Schneeflocken hafteten, verblüfft stehen und sah sich ungläubig um. Drei Wände des zehn mal zwölf Meter großen Erdgeschoßraums verschwanden bis zur Decke hinter Apparaturen, die ohne menschliches Zutun summten und klickten. Die Lampen der Deckenbeleuchtung waren größtenteils ausgeschaltet, so daß der Raum in sanftes, fast unheimliches Dämmerlicht getaucht war. Die Apparate waren für den Betrieb des Tors erforderlich und wiesen Dutzende von blaßgrün oder orangerot leuchtenden Skalen auf, denn das Tor – das einen Zeittunnel darstellte – wurde niemals ausgeschaltet; ein Wiedereinschalten wäre mit großen Schwierigkeiten und riesigem Energieaufwand verbunden gewesen, das einmal in Betrieb genommene Tor ließ sich aber verhältnismäßig leicht in Betrieb halten. Da der Schwerpunkt der Forschungsarbeit jetzt nicht mehr auf der Entwicklung des Tores lag, kamen Institutsmitarbeiter ins Hauptlabor nur noch zu routinemäßigen Wartungsarbeiten und natürlich zur Beaufsichtigung von Zeitreisen. Nur unter diesen Voraussetzungen hatte Stefan die unzähligen heimlichen, nicht genehmigten Zeitreisen durchführen können, die er unternommen hatte, um die Ereignisse in Lauras Leben zu überwachen und gelegentlich zu korrigieren.
Aber obwohl es nicht außergewöhnlich war, daß sich tagelang niemand im Labor aufhielt, kam diese Tatsache jetzt völlig unerwartet, denn Kokoschka war mit dem Auftrag losgeschickt worden, ihn zu liquidieren, und seine Auftraggeber hätten hier eigentlich besorgt warten müssen, um zu erfahren, wie es Kokoschka in den verschneiten San Bernardino Mountains ergangen war. Sie mußten doch mit der Möglichkeit rechnen, daß Kokoschka versagte und der falsche Mann aus dem Jahre 1988 zurückkehrte. Also hätten sie das Tor bewachen müssen. Wo waren die Männer der Geheimpolizei in ihren schwarzen Trenchcoats? Wo waren die Schußwaffen?
Er schaute auf die große Wanduhr und stellte fest, daß sie 11.06 Uhr Ortszeit anzeigte. Also völlig normal. Er hatte die Zeitreise an diesem Morgen um 10.55 Uhr begonnen, und jede Reise endete nach genau elf Minuten. Niemand wußte eine Erklärung dafür, aber unabhängig von der Aufenthaltsdauer des Zeitreisenden an seinem Ziel vergingen hier im Labor jeweils nur elf Minuten. Er war fast eineinhalb Stunden lang in den San Bernardino Mountains gewesen, aber in seinem eigenen Leben, in seiner eigenen Zeit waren nur elf Minuten verstrichen. Auch wenn er monatelang bei Laura geblieben wäre, bevor er auf den gelben Knopf gedrückt und den Strahl aktiviert hätte, wäre er nur genau elf Minuten nach seiner Abreise ins Institut zurückgekehrt.
Aber wo waren die Uniformen, die Schußwaffen, die wütenden Kollegen, die ihrer Empörung Ausdruck gaben? Weshalb hatten sie das Hauptlabor verlassen, wenn sie doch wußten, daß er in Lauras Leben eingriff, und Kokoschka losgeschickt hatten, um Laura und ihn erledigen zu lassen, und wenn sie nur elf Minuten zu warten brauchten, um den Ausgang dieser Strafexpedition zu erfahren?
Er legte Stiefel, Seemannsjacke und Schulterhalfter ab und stopfte alles hinter einen Schaltschrank, der etwas von der Wand abgerückt stand. Seinen weißen Laborkittel hatte er dort vor Antritt der Zeitreise versteckt; jetzt schlüpfte er wieder hinein.
Verwirrt und trotz des Fehlens eines feindseligen Empfangskomitees noch immer besorgt, trat Stefan in den Erdgeschoßkorridor hinaus und machte sich auf den Weg in sein Büro.
Am Sonntagmorgen um 2.30 Uhr saß Laura in Schlafanzug und Morgenmantel in ihrem neben dem Schlafzimmer gelegenen Arbeitszimmer an ihrem PC, trank in kleinen Schlucken Apfelsaft und arbeitete an einem neuen Buch. Die
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