Der Schutzengel
genoß, weil Thelma die Gabe besaß, ihr komisches Talent den Bedürfnissen eines Achtjährigen anzupassen.
Als Chris Eichhörnchen sah, die in der Nähe des Waldrandes umhertollten, wollte er sie füttern. Laura gab ihm eine Scheibe Weißbrot mit. »Die zerteilst du in kleine Stücke, die du ihnen zuwirfst. Sie lassen dich ohnehin nicht zu nah an sich heran. Und du bleibst in meiner Nähe, verstanden?«
»Klar, Mom.«
»Geh nicht an den Waldrand. Nur ungefähr die halbe Strecke bis zum Wald.«
Chris lief ungefähr zehn Meter weit, hatte damit etwas über die Hälfte der Strecke bis zum Waldrand zurückgelegt, und ließ sich auf die Knie nieder. Er riß kleine Weißbrotstücke ab und warf sie den Eichhörnchen zu, und die scheuen Tiere kamen bei jedem Brocken näher heran.
»Ein lieber Junge«, meinte Thelma.
»Sehr lieb.« Laura zog ihre Uzi näher zu sich heran.
»Er ist nur zehn, zwölf Meter von uns entfernt«, stellte Thelma fest.
»Aber dem Waldrand näher als mir.« Laura beobachtete die Schatten unter den grüngezackten Baumriesen.
Thelma angelte sich ein paar Kartoffelchips aus dem Beutel. »Mein erstes Picknick, zu dem jemand eine Maschinenpistole mitgebracht hat. Gefällt mir gar nicht so übel. Wenigstens braucht man keine Angst vor Bären zu haben.«
»Sie hilft natürlich auch gegen Ameisen.«
Thelma streckte sich auf der Seite liegend aus und stützte ihren Kopf in eine Hand. Laura blieb nach Indianerart mit untergeschlagenen Beinen sitzen. Orangerote Schmetterlinge, hell wie konzentrierter Sonnenschein, flatterten durch die warme Augustluft.
»Der Junge scheint mit der Sache fertig zu werden«, sagte Thelma.
»Mehr oder weniger«, stimmte Laura zu. »Anfangs ist’s natürlich schlimm gewesen. Er hat viel geweint, ist emotional labil gewesen. Aber das hat sich wieder gegeben. Kinder in seinem Alter sind wandlungsfähig, passen sich rasch an. Aber obwohl er sich mit allem abgefunden zu haben scheint … ich fürchte, daß er jetzt einen düsteren Zug in sich hat, der früher nicht dagewesen ist und sich nicht wieder verlieren wird.«
»Nein, er verliert sich nicht wieder«, bestätigte Thelma. »Er liegt wie ein Schatten auf seinem Herzen. Aber Chris wird weiterleben und glücklich werden, und es wird Zeiten geben, in denen er sich dieses Schattens überhaupt nicht bewußt sein wird.«
Während Thelma beobachtete, wie Chris die Eichhörnchen anlockte, betrachtete Laura ihre Freundin von der Seite. »Du vermißt Ruth noch immer, nicht wahr?«
»Jeden Tag seit zwanzig Jahren. Vermißt du deinen Vater etwa nicht?«
»Doch«, antwortete Laura. »Aber ich glaube, daß ich etwas anderes empfinde, wenn ich an ihn denke. Wir rechnen damit, daß unsere Eltern vor uns sterben, und selbst wenn sie uns vorzeitig verlassen, werden wir damit fertig, weil wir stets gewußt haben, daß das früher oder später passieren wird. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn Ehepartner, Kinder … oder Geschwister sterben, mit deren vorzeitigem Tod wir nie gerechnet haben. Deshalb werden wir damit schwerer fertig. Und am schwersten trifft uns wohl der Verlust einer Zwillingsschwester.«
»Bei jeder guten Nachricht – in bezug auf meine Karriere, meine ich – überlege ich mir als erstes, wie sehr Ruthie sich darüber für mich gefreut hätte. Und wie steht’s mit dir, Shane? Wie kommst du zurecht?«
»Ich weine nachts.«
»Das ist jetzt gesund. In einem Jahr wär’s nicht mehr gesund.«
»Ich liege nachts wach und horche auf meinen Herzschlag – ein einsames Geräusch. Gott sei Dank, daß ich Chris habe! Er ist jetzt mein Lebenszweck – und du, Thelma. Ich habe Chris und dich, wir sind eine Art Familie, findest du nicht auch?«
»Nicht nur eine Art Familie. Wir sind eine Familie. Du und ich, wir zwei sind Schwestern.«
Laura streckte lächelnd eine Hand aus und fuhr damit Thelma durchs zerzauste Haar.
»Aber«, schränkte Thelma ein, »daß wir Schwestern sind, bedeutet noch lange nicht, daß ich dir meine Klamotten leihe.«
Durch die offene Tür der Büro- und Laborräume des Instituts sah Stefan seine Kollegen bei der Arbeit, und keiner von ihnen ließ irgendein besonderes Interesse für ihn erkennen. Er fuhr in den zweiten Stock hinauf, wo er unmittelbar vor seinem Arbeitszimmer auf Dr. Wladislaw Janusky stieß, der als Dr. Wladimir Penlowskis langjähriger Schützling stellvertretender Leiter des Zeitreiseprojekts war, das ursprünglich als Projekt »Sichel« bezeichnet worden war, bis es vor
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