Der Schutzengel
einzigen Lichtquellen im Raum waren der Bildschirm mit seinen grün leuchtenden elektronischen Lettern und eine kleine Schreibtischlampe, deren Lichtkegel auf den Computerausdruck der gestern geschriebenen Seiten gerichtet war. Neben dem Typoskript lag ein Revolver auf dem Schreibtisch.
Die Tür zum dunklen Flur stand offen. Außer der Klotür machte Laura keine Tür mehr zu, weil eine geschlossene Tür sie daran hätte hindern können, die leisen Schritte eines Eindringlings in einem anderen Teil des Hauses zu hören. Das Haus war durch eine hochmoderne Alarmanlage gesichert, aber sie ließ die inneren Türen für alle Fälle trotzdem offen. Jetzt hörte sie Thelma den Flur entlangkommen und drehte sich um, als ihre Freundin an der Tür erschien. »Habe ich dich geweckt? Tut mir leid, wenn ich zu laut gewesen bin.«
»Nö, wir Nachtclubleute arbeiten immer spät. Dafür schlafe ich bis mittags. Aber was ist mit dir? Bist du normalerweise um diese Zeit auf?«
»Ich schlafe seit Monaten nicht mehr sehr gut. Vier bis fünf Stunden pro Nacht sind schon viel. Anstatt im Bett zu liegen und Schäfchen zu zählen, stehe ich lieber auf und arbeite.«
Thelma zog sich einen Stuhl heran und legte ihre Füße auf Lauras Schreibtisch. Ihr Geschmack in bezug auf Nachtwäsche war seit ihren Jugendtagen noch ausgefallener geworden: Sie hatte einen weiten grünen Seidenschlafanzug mit abstraktem Muster aus roten, blauen und gelben Kreisen und Quadraten an.
»Freut sich zu sehen, daß du noch immer Häschenpantoffeln trägst«, stellte Laura fest. »Das beweist eine gewisse feste Konsistenz deiner Persönlichkeit.«
»Ja, ich bin eben stinksolide. In meiner Größe gibt’s natürlich keine Häschenpantoffeln mehr, deshalb muß ich ein Paar flauschige Erwachsenenpantoffeln und ein Paar Kinderpantoffeln kaufen, die Augen und Ohren von den kleinen abschneiden und sie auf die großen nähen. Was schreibst du im Augenblick?«
»Ein rabenschwarzes Buch.«
»Bestimmt die ideale Lektüre für ein lustiges Wochenende am Strand.«
Laura seufzte und lehnte sich in ihren gasgefederten Bürosessel zurück. »Es ist ein Roman über den Tod, über die Ungerechtigkeit des Todes. Ein idiotisches Projekt, weil ich das Unerklärliche zu erklären versuche. Ich versuche, einem idealen Leser den Tod zu erklären, damit ich ihn dann vielleicht selbst verstehe. Mein Buch handelt davon, weshalb wir kämpfen und weitermachen müssen, obwohl wir uns unserer Sterblichkeit bewußt sind. Weshalb wir kämpfen und leiden müssen. Es ist ein schwarzes, finsteres, verbittertes, trübseliges, deprimierendes, zutiefst verstörendes Buch.«
»Gibt’s dafür einen großen Markt?«
Laura mußte lachen. »Wahrscheinlich gar keinen. Aber sobald ein Schriftsteller eine Idee für einen Roman hat … Nun, es gleicht einem inneren Feuer, das einen anfangs angenehm wärmt, dann aber beginnt, einen zu verzehren, von innen heraus zu verbrennen. Vor diesem Feuer kann man nicht flüchten; es brennt unablässig weiter. Löschen kann man es nur, indem man das verdammte Buch schreibt. Aber sooft ich mit diesem Roman nicht weiterkommen, beschäftige ich mich mit dem hübschen kleinen Kinderbuch, das ich über Sir Keith Kröterich schreibe.«
»Du spinnst, Shane!«
»Wer trägt hier Häschenpantoffeln?«
Mit der legeren Kameraderie, die sie seit über zwei Jahrzehnten verband, sprachen sie über dieses und jenes. Vielleicht war Lauras Einsamkeit, die sie jetzt stärker beschäftigte als in den Tagen unmittelbar nach Dannys Ermordung, oder ihre Angst vor dem Unbekannten daran schuld, daß sie von ihrem speziellen Beschützer zu erzählen begann. Thelma war der einzige Mensch, der ihr vielleicht glauben würde. Tatsächlich hörte Thelma wie gebannt zu, nahm bald die Füße vom Schreibtisch und beugte sich in ihrem Sessel nach vorn. Sie äußerte kein Wort des Zweifels, während Laura die Ereignisse von dem Tag an, an dem der Junkie erschossen worden war, bis zum Verschwinden ihres Beschützers auf der Staatsstraße 330 schilderte.
Als Laura dieses innere Feuer gelöscht hatte, fragte Thelma: »Warum hast du mir nicht schon vor Jahren von deinem … deinem Beschützer erzählt? Nicht schon damals im McIllroy?«
»Das weiß ich selbst nicht. Die Sache ist mir irgendwie … magisch vorgekommen. Wie etwas, das ich für mich behalten mußte, weil sonst der Bann gebrochen war und ich ihn nie wiedersehen würde. Und als er’s mir überließ, mit dem Aal fertig zu werden, nicht
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