Der Schwarm
aber alles drehtesich, Delaware schrie, der Pilot schrie, er selber schrie, das Meer kam auf sie zu.
Etwas schlug ihm ins Gesicht. Eisig.
Dröhnen in seinen Ohren. Hohles Kreischen von brechendem Stahl.
Gischt.
Dunkles Grün.
Nichts mehr.
50 Meter tiefer stabilisierte der Bordcomputer den zylindrischen Leib des URA. Der Roboter tarierte sich aus und folgte dem Wal, der ihm am nächsten war. In einiger Entfernung, nur schattenhaft erkennbar im Zwielicht, waren weitere Tiere zu sehen. Das elektronische Auge des URA registrierte all dies, ohne dass der Computer den optischen Eindrücken fürs Erste Bedeutung beimaß.
Andere Funktionen traten in Kraft.
Trotz hervorragender optischer Sensorik lag die wahre Stärke des URA in der akustischen Erfassung. Hier hatte sein Schöpfer wahres Genie offenbart. Die akustischen Systeme ermöglichten es dem Roboter, den Meeressäugern über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Stunden zu folgen, ohne sie zu verlieren, wohin sie sich auch wendeten.
Er folgte ihren Gesängen.
Die vier Hydrophone des URA, hochsensible Unterwassermikrofone, erfassten in diesen Augenblicken nicht nur jeden Laut, den die Tiere von sich gaben, sondern auch deren Quellkoordinaten. Sie waren rund um den Leib des Roboters angeordnet. Als einer der Wale einen hohen, feinen Ton ausstieß, empfingen sie das Geräusch nacheinander statt gleichzeitig. Kein menschliches Ohr hätte die winzigen Zeitverzögerungen und damit verbundenen Abschwächungen registrieren können, nur ein Computer war dazu in der Lage. So traf der Schall als Erstes und am lautesten auf das Hydrophon, das der Quelle am nächsten lag, und dann der Reihe nach auf die drei anderen.
Als Folge erstellte der Computer einen virtuellen Raum und wies den Urhebern der Laute Koordinaten darin zu. Nacheinander füllte sich der Raum mit Positionsanzeigen von Walen, die sich in der Weise zueinander verschoben, wie auch die Tiere ihren Standort veränderten. Das Rudel wurde im Innern des Computers sozusagen nachgebaut.
Auch Lucy gab eine Reihe von Tönen von sich, als sie in der Tiefe verschwand. Im Rechner waren umfangreiche Datenmengen gespeichert, spezifische Laute von Walen und bestimmten Fischen bis hin zu den Stimmen einzelner Tiere. Der URA durchforstete seinenelektronischen Katalog, aber Lucy als Individuum tauchte dort nicht auf. Automatisch legte er eine Datei für die Laute der Koordinatengruppe an, die Lucy entsprach, verglich sie mit weiteren Koordinatengruppen, klassifizierte alle Tiere vor ihm als Grauwale und beschleunigte auf zwei Knoten, um ihnen ein Stück näher zu kommen.
Ebenso gründlich, wie er die Wale akustisch geortet und angepeilt hatte, ging der Roboter nun zur optischen Erfassung über. In seinen Datenbanken waren Flukenmuster und -silhouetten gespeichert, außerdem Finnen, Flipper und signifikante Körperstellen einzelner Individuen. Diesmal war der Maschine mehr Glück beschieden. Das elektronische Auge scannte die auf und ab schlagenden Fluken der Wale vor ihm und identifizierte schnell einen davon als Lucy. Kurz zuvor hatte man ihm sämtliche Daten der Wale, die an den Angriffen beteiligt gewesen waren, einprogrammiert, und darum wusste der Roboter nun, welchem Tier seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu gelten hatte.
Der URA korrigierte seinen Kurs um wenige Grade.
Walgesänge erlaubten Stimmkontakte über Distanzen von mehr als einhundert Seemeilen. Die Schallwellen bewegten sich im Wasser fünfmal schneller fort als in der Luft. Lucy mochte schwimmen, wie schnell und wohin sie wollte.
Er würde sie nicht mehr verlieren.
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26. April
Kiel, Deutschland
Die eiserne Tür glitt zur Seite. Bohrmanns Blick erwanderte die gigantische Konstruktion des Simulators.
Der Tiefseesimulator schien die Natur auf ein menschenverträgliches Maß heruntergestutzt zu haben, ohne sie gleich ins Exil der bloßen Theorie zu schicken. Wenngleich im kleinen Maßstab, war das Meer beherrschbar geworden. Sie hatten sich eine Welt aus zweiter Hand geschaffen, eine jener idealisierten Kopien, wie sie den Menschen zunehmend vertrauter wurden als die Wirklichkeit: Wer wollte noch etwas über das wahre Leben im Mittelalter wissen, wenn Hollywood es auf seine Weise zeigte? Wen interessierte, wie ein Fisch starb, wie er blutete, aufgeschnitten und seine Eingeweide entnommen wurden, solange man auf Eis liegende Stücke kaufen konnte? Amerikanische Kinder malten Hühner mit sechs Beinen, weil Hühnerschenkel im Sechserpack angeboten
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