Der schwarze Kanal
Rohkostzeitalters? Den schwarzen Fluch vom Biohof? Die große Sprossen-Pest? Es ist schon vertrackt, gerade waren die Deutschen noch zu Tausenden auf die Straße gegangen, um sich und das Land vor dem Atomtod zu bewahren, und dann kam das Verderben aus dem Frischeregal. Die Bilanz: drei tote Arbeiter in Fukushima, 35 Opfer nach dem Outbreak in der norddeutschen Tiefebene. Was die Tödlichkeit angeht, steht es nicht gut für die Ökoindustrie, aber so darf man natürlich nicht rechnen. Die Toten der Atomwirtschaft zählen immer dutzendfach, damit liegt sie noch vorn.
Angst ist ein eher unzuverlässiger Ratgeber, wie sich wieder einmal zeigt. Das subjektive Empfinden, etwas sei so gefährlich, dass man es besser meide, ist trügerisch. Nur weil man sich vor etwas besonders fürchtet, heißt das nicht, dass es auch besonders zu fürchten wäre. Aber Statistik und Wahrscheinlichkeit verlieren schnell ihre Bedeutung, wenn es um Ängste geht; sie werden sogar mit Bedacht außer Acht gelassen. Anders ist ja nicht zu erklären, dass die meisten Menschen sich bei einer Autofahrt sicherer fühlen als bei einer Flugreise, obwohl das Gegenteil angezeigt wäre. Tritt sie kollektiv auf, kann die Angst auch erschreckend teuer sein: Eine Milliarde Euro dürfte die E-Panik die europäische Agrarwirtschaft gekostet haben, wie das «Handelsblatt» seinerzeit ausgerechnet hat. Wenn die Verbraucher selbst Gurkengläser und eingelegte Tomaten zu entsorgen beginnen, hilft kein Zureden mehr, da ist jedes Argument verloren.
Trotzdem steht die Angst in der politischen Debatte hoch im Kurs, tatsächlich ist sie als Gefühlswort allerersten Ranges geeignet, sofort jede Diskussion zu bestimmen. Nichts wirkt so unschlagbar authentisch wie das Bekenntnis, sich zu fürchten – und authentisch zu sein, gilt seit den achtziger Jahren als Ausweis größter Wichtigkeit. Gegen echte Betroffenheit kommt keine Risikoabwägung an; wer lieber Zahlen als Gefühlen vertraut, hat schon verloren, wie jeder Profi weiß.
Es hat ein wenig gedauert, bis die Gefühlskultur das Regierungshandwerk erreichte, aber mittlerweile ist auch das geschafft. Wer heute noch glaubt, von Politikern erwarten zu dürfen, dass sie in schwierigen Zeiten einen kühlen Kopf bewahren, hat nichts von moderner Stimmungspolitik begriffen. Natürlich sei die Energiewende der Bundesregierung erklärungsbedürftig, gestand der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust ein: «Aber was wollen sie machen, wenn 70 Prozent der Bevölkerung für den Ausstieg sind? Politiker sind keine Helden, sie wollen wiedergewählt werden.» Früher galt das Regieren nach Gefühlslage als Opportunismus, heute sieht man darin ein Zeichen besonderer Einfühlsamkeit und Bürgernähe.
Ein Problem mit dem Weltschrecken ist, dass er so gehäuft auftritt. Was haben wir in den vergangenen 30 Jahren nicht schon alles überlebt: den sauren Regen und das Waldsterben, die Überbevölkerung, das Ozonloch und die Aids-Katastrophe, die nach den ersten Hochrechnungen bis heute etwa die Hälfte der Weltbevölkerung dahingerafft haben müsste. Zwischendurch mussten wir noch mit den Nematoden im Fisch fertigwerden, den «tödlichen Eiern», die es 1993 sogar auf einen SPIEGEL -Titel brachten, der Vogel- und der Schweinegrippe und natürlich BSE , dem Killer im Fleischklops. Man mag es dem einen oder anderen also nachsehen, wenn er nicht gleich ansprang, als es hieß, dass demnächst die Polkappen schmelzen würden. Auch gegen Unheilsverkündigungen kann man abstumpfen.
Apropos Polkappen. Lange nichts mehr davon gehört. Irgendwie scheint der Klimawandel an Bedrohlichkeit verloren zu haben. Aber so geht es, wenn zwei Ängste miteinander konkurrieren: Nun fürchten wir uns eben ganz doll vor dem Atom, weshalb wir viele neue Kohle- und Gaskraftwerke brauchen, da müssen die Klimaziele leider zurücktreten. Nicht auszudenken, wie die Öffentlichkeit reagiert hätte, wenn Fukushima und Bienenbüttel auf die gleiche Woche gefallen wären. Vermutlich würden wir heute noch auf die Energiewende warten, weil die Bürger zu sehr damit beschäftigt gewesen wären, die heimischen Nahrungsbestände auf Dosenkost und Tiefkühlpizza umzustellen.
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Wir Euro-Nazis
Jetzt sind wir also die Euro-Nazis. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis es so weit kommen würde – dieser Fummel hängt immer griffbereit im internationalen Kostümfundus. Man muss sagen, es konnte einem vor einem selber angst und bange
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