Der schwarze Kanal
werden, wenn man zuletzt nach Griechenland blickte: Ganz oben auf der Liste des Weltbösen, gegen das sich die Menschen dort zu Großdemonstrationen versammelten, standen wir Deutsche. Wenn man den Nachrichten glauben durfte, die einen aus dem Krisenland erreichten, waren wir die Wegbereiter eines neuen «Finanzfaschismus», der den Schuldenstaat in eine «Kolonie des Vierten Reiches» verwandeln wollte beziehungsweise Athen in ein «finanzielles Dachau», wie große Tageszeitungen schon zum Ausbruch der Krise mit Gespür für historische Dimensionen auf den Punkt brachten.
Was war passiert? War bei den Bundesbürgern die lang unterdrückte Eroberungswut durchgeschlagen? Hatten die Deutschen sich im Gegenzug für ihre Hilfsbereitschaft ein paar griechische Inseln unter den Nagel gerissen? Nein, die Europäer, mit der Bundesregierung vorneweg, hatten noch einmal 120 Milliarden Euro lockergemacht – zusätzlich zu den 110 Milliarden, die sie schon auf den Weg gebracht hatten, um das Südland vor der Pleite zu bewahren. Allerdings drängten insbesondere die Deutschen darauf, dass die Empfänger der Hilfsgelder das Ihre tun, damit wenigstens die Hoffnung bleibt, dass nicht alles verloren ist. Das reichte, um die Erinnerung an düstere Zeiten wachzurufen.
Auch Nationen können sich als Opfer imaginieren, wie sich zeigt, selbst wenn schon der Augenschein dagegen spricht. Der Opferstatus ist in mehrfacher Hinsicht von Gewinn, das macht ihn so verführerisch. Er sichert Aufmerksamkeit und Anteilnahme und verspricht Entlastung, indem er die Verlagerung von Schuldanteilen ermöglicht und die eigene Verantwortung minimiert. Nichts ist an einer schlimmen Erfahrung ja deprimierender als die Erkenntnis, dass man sich sein Unglück selber zuzuschreiben hat. Welche Erleichterung, wenn man andere verantwortlich machen kann, in diesem Fall den IWF , die Europäische Zentralbank und überhaupt die Finanzindustrie.
Der Nachteil dieser Art von Schuldverlagerung ist allerdings ebenso evident. Wer sich in die Opferrolle flüchtet, ist selten in der Lage, aus eigener Kraft aus seiner Misere herauszufinden. Wenn es übermächtige Kräfte sind, die einen niederhalten, dann nützt es auch wenig, sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Jeder gute Therapeut rät seinen Klienten, eine traumatische Erfahrung möglichst schnell hinter sich zu lassen, genau darauf zielt seine Arbeit. Die Regression in die Opferrolle verhindert jedes emanzipatorische Erwachen, das ist das Verhängnisvolle an dieser Form der Krisenbewältigung.
Nüchtern betrachtet haben die Griechen erlebt, was jedem Schuldner passiert, der über seine Verhältnisse lebt: Irgendwann verliert der Gläubiger das Vertrauen in die Solvenz seiner Kunden und sperrt die Kreditlinien. Das Einzige, was in so einem Fall hilft, ist radikales Sparen – oder, wenn auch das nicht mehr hilft, die Insolvenz. Nationen können bei der Entschuldung zusätzlich auf Inflation setzen, die Abwertung ihrer Währung oder auf außergewöhnliches Wachstum. Die ersten beiden Auswege sind den Griechen verschlossen, jedenfalls solange sie im Euro bleiben. Für einen Wachstumsschub, wie er nötig wäre, um ihren Haushalt in Ordnung zu bringen, fehlt die wirtschaftliche Basis. Mit Olivenanbau und Fremdenverkehr lassen sich nun einmal keine großen Sprünge machen. Also hängt alles davon ab, wie schnell sich die Sorgenkinder im Süden mit der Wirklichkeit arrangieren und ihre Ansprüche der Leistungsfähigkeit anpassen.
Mitleid und tröstende Umarmungen helfen nicht viel bei Insolvenzverfahren, wie jeder Schuldenberater weiß. Wenn die Zahlungsunfähigkeit droht, ist ein klarer Blick auf die Bilanzen gefragt. Niemand weiß zu sagen, ob es besser ist, Griechenland mit immer neuen Krediten vorübergehend über Wasser zu halten – oder gleich die Staatspleite ins Auge zu fassen. Es macht die Sache in jedem Fall nicht leichter, dass auch hierzulande in diesem Zusammenhang gerne große Gefühle bemüht werden. Die Bundeskanzlerin lasse es an Herz für die europäische Idee fehlen, heißt es in den Kommentarspalten der selbsternannten Euro-Retter. Angela Merkels beiläufige Bemerkung, auch die Griechen müssten sich an den Gedanken gewöhnen, länger zu arbeiten, wurde ihr nicht als Ausdruck praktischer Lebensklugheit ausgelegt, sondern als Appell ans Ressentiment.
Abgesehen davon, dass die Kanzlerin auf das Grundgesetz verpflichtet ist, wo aus gutem Grund nichts von europäischen Herzensangelegenheiten
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