Der schwarze Kanal
vorhalten, dass sie die europäischen Nachbarn gegen sich aufbringt, die daran gewöhnt sind, dass die Deutschen am Ende die Rechnung begleichen. Aber was wäre die Alternative? Der sicherste Weg, die Bundesbürger von Europa zu entfremden, ist eine Politik, die auf dem Altar der europäischen Idee den Wohlstand des Landes opfert. Auch wird gerne übersehen, dass Deutschland im demokratischen Europa nur eine Stimme unter vielen hat. Die Kanzlerin ist durch Verträge gebunden, die ihre Vorgänger geschlossen haben, den Maastricht-Vertrag zuallererst. Und es war, das muss man bei dieser Gelegenheit dann doch einmal anmerken, nicht die rot-grüne Bundesregierung, die dieses Vertragswerk ausgehandelt hat, das uns nun solches Kopfzerbrechen bereitet.
Vielleicht ist es zur Abwechslung gar nicht so schlecht, dass an der Spitze des Landes eine Frau steht, die eher als Ingenieurin der Macht gilt denn als Volkstribunin. Man kann das für zu wenig halten, aber es spart uns möglicherweise enorm viel Geld.
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Abschied von einer moralischen Instanz
Stellen wir uns für einen Moment vor, ein in die Jahre gekommener Schriftsteller, Bewunderer Adenauers und ausdauernder Wahlhelfer der CDU , hätte im Interview mit einer israelischen Tageszeitung dem Mord an den europäischen Juden die Liquidierung deutscher Wehrmachtssoldaten an die Seite gestellt und dabei auch noch die Zahlen verwechselt. Statt von einer Million Soldaten, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ums Leben kamen, wäre bei ihm unversehens von sechs Millionen ermordeten Deutschen die Rede gewesen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich die Reaktion der aufgeklärten Öffentlichkeit auf diese Aufrechnerei auszumalen. Der Mann wäre erledigt, jedenfalls als ernstzunehmende politische Stimme.
In diesem Fall aber hieß der Urheber der seltsamen Holocaust-Mathematik Günter Grass, und da liegen die Dinge offenkundig anders. Statt entschiedener Zurechtweisungen fand man im deutschen Feuilleton mehrheitlich verschwurbelte Entschuldigungen, in denen an die zahlreichen Verdienste des Autors erinnert wurde. Selbst der israelische Historiker, der mit Grass noch einmal über den Judenmord gesprochen hatte, nahm ihn im Nachgang in Schutz: «Ich denke, dass er im Eifer des Gefechts eine falsche Zahl genannt hat. Tatsächlich hätte ich ihn korrigieren müssen, und ich entschuldige mich dafür, das nicht getan zu haben.» Das ist großmütig, um das Mindeste zu sagen.
Man könnte die Sache damit auf sich beruhen lassen, wenn nicht ausgerechnet Grass als eine Gewissensinstanz gelten würde, auf die sich alle immer wieder berufen, die im Umgang mit politischen Kontrahenten gern zu moralischen Urteilen greifen. Tatsächlich wird Grass schon seit langem gerade wegen seiner deutlichen Einlassungen zum Zeitgeschehen geschätzt, und das in dem Maße, in dem die literarische Produktion zu wünschen übriglässt. Warum bloß, so ließe sich fragen, hält sich so hartnäckig der Glaube, Romanautoren hätten zu politischen Themen besonders viel beizutragen?
Irgendein Missverständnis hat aus Schriftstellern, die schöne Geschichten erfinden, politische Großdenker gemacht, die zu allem Möglichen Auskunft geben sollen, zum Klimawandel ebenso wie zu den Nachtseiten der Globalisierung, dem Welthunger oder dem Nahost-Konflikt. Niemand käme auf die Idee, Gewichtheber zur Griechenlandkrise zu befragen, nur weil sie auch mal in Athen trainiert haben, oder Transportunternehmer, die irgendwann ein paar Aktien erstanden haben, zur Zukunft der Finanzmärkte. Man würde zu Recht erwarten, dass die Antwort durchschnittlich naiv, im besten Falle unfreiwillig komisch ausfiele.
Was sein politisches Urteilsvermögen angeht, hat Grass in stupender Regelmäßigkeit bewiesen, dass er keines besitzt. Über die Jahre hat er den haarsträubendsten Unsinn in die Welt gesetzt, was seine Bewunderer allerdings nicht davon abhält, ihm regelmäßig ein Podium zu bieten, auf dem er dann gegen den «Turbokapitalismus» oder die Europapolitik der Kanzlerin vom Leder ziehen kann. Unvergessen, wie er im Einheitsjahr 1990 in einer Fernsehdiskussion mit Rudolf Augstein aus dem Holocaust den Zwang zur Doppelstaatlichkeit ableitete («Der Ort des Schreckens schließt einen zukünftigen Einheitsstaat aus»), worauf ihm Augstein nur kühl entgegenhielt: «Das ist keine politische Betrachtungsweise, das ist Religion.» Der Historiker Jens Hacke resümierte schon vor Jahren: «Er dürfte der
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