Der schwarze Krieger
Palast näherte, trat Königin Checa aus der Tür. Ihr Gesicht war vor Sorge aschfahl, sie war abgemagert und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Er lief auf sie zu, doch sie ertrug es nicht, ihn anzusehen, wie sie auch seine Berührung nicht ertrug, als wären ihre Schuldgefühle ansteckend.
Ellak, ihr Zweitgeborener, lag im Sterben.
«Wir alle müssen eines Tages sterben», sagte Kleiner Vogel unbeschwert dahin und spielte mit dem Bärenjungen in der Nähe.
Attila blieb wie angewurzelt stehen. Einen Moment lang schien es, als würde er den Schamanen endlich packen und ihm auf der Stelle den Kopf abschlagen. Doch dann folgte er seiner Frau in den Palast.
Kleiner Vogel drängte sich zwischen sie. «Lass mich ihn sehen.» Nach einigen Augenblicken fand er sich hinausgestoßenvor dem Eingang wieder. «Der Junge braucht Ruhe, das ist alles», sagte er, «und gekochte Milch. Er hat etwas Falsches gegessen.»
Das Bärenjunge kaute an seinem Finger. Kleiner Vogel setzte es auf den Boden.
Auf einmal stand eine zweite Gestalt an der Tür. Es war Enkhtuya.
«Das Kind wird sterben», zischte sie leise.
Kleiner Vogel stieß den Bären beiseite und starrte wütend auf den Boden.
Die Hexe schlich heran, lautlos. «Es sei denn, er trinkt das Blut eines Unschuldigen.»
Attila sah sie lange und durchdringend an. Dann nickte er. «Nimm es.»
Enkhtuya beugte sich rasch vor. Wie ein Falke, der auf sein Opfer niederstößt, griff sie nach dem Bärenjungen und packte es am Genick.
«Nein!», schrie Kleiner Vogel und fuhr herum. «Sie darf es nicht bekommen, verfluche sie und ihre Schlangen mit den Steinaugen!» Er schrie Attila zornig an: «Wie kannst du es wagen, ihr das zu erlauben! Sie ist nicht unsere Heilige, sie ist niemandes Heilige, sie ist unheilig bis auf den Grund ihrer Seele. Dieses Bärenjunge steht unter meinem persönlichen Schutz, wenn sie es wagt …»
Attila brüllte ihn an, still zu sein.
Kleiner Vogel stand da und kaute hasserfüllt auf seiner Unterlippe. Aus seinen Augen schossen Blitze.
Attila nickte der Hexe zu. «Nimm es», sagte er dann erneut. «Heile den Jungen.»
Kleiner Vogel stand mit offenem Mund da. Er rang nach Luft. Dann sagte er leise: «Du hast eine Wahl getroffen», und verschwand in der Dunkelheit.
Enkhtuya machte sich über dem stöhnenden Jungen zu schaffen, während Vater, Mutter und Geschwister daneben standen. Orestes verfolgte das Ganze aus einem schattigen Winkel heraus. Sie wedelte mit einem rauchenden Föhrenzweig über der schwitzenden, gekrümmten Gestalt und verbrannte Fichtenharz auf einem flachen Stein. Dabei gab sie ein tiefes Summen von sich, wie ein Schwarm wütender Wespen. Sie wurde immer hitziger und begann, mit rollenden Augen den Dämon auszutreiben, indem sie wild mit dem Föhrenbüschel auf den Jungen einhieb. In der anderen Hand hielt sie ein kleines Messer mit nadeldünner Spitze und stach dem infizierten Kind damit in Brust und Bauch, Füße, Kopf und Hände. Ellaks Lippen färbten sich blau, während alle zusahen. Er stöhnte und wand sich, zuckte dann und drückte den Rücken durch, rang nach Atem – und dann füllte sich sein Mund mit Blut.
Doch es war nicht sein Blut. Enkhtuya hatte das Bärenjunge hoch über seinen Kopf gehalten und ihm mit ihrem kleinen Messer die Kehle durchgeschnitten. Das Tier hauchte sofort sein Leben aus, und helles junges Blut sprudelte dem Königssohn über das Gesicht. Die Hexe ließ das Messer zu Boden fallen, mit ihren langen, mageren Händen drückte sie den Leib des Bären aus, bis auch der letzte Tropfen herausgepresst war. Schließlich würgte der Junge auf dem Bett Blut aus seiner zusammengepressten Kehle hervor, und der Dämon entwich mit einem leisen Luftzug seinem Körper.
Der Junge sank ermattet zurück. Unter der Maske aus Blut gewannen seine Lippen allmählich ihre natürliche Farbe wieder. Enkhtuya ließ den schwarzen Pelzbalg zu Boden sinken, machte auf dem Absatz kehrt und verließ ohne ein weiteres Wort den Palast. Nur Orestes blickte ihr nach. Checaund Attila standen Arm in Arm da und schauten auf ihren wieder zum Leben erwachten Sohn.
Den ganzen nächsten Tag über lastete eine unheimliche Stille über dem Lager. Gegen Abend trat der König aus dem Palast. Mit verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht stand er da. Dann lächelte er.
Das gesamte Lager brach in wilden Jubel aus, sowohl über die Rückkehr der Männer als auch darüber, dass der Sohn des Königs am Leben war. Ellak hatte überlebt!
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