Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend
gekümmert hätten wie dann, wenn sie nichts mehr davon haben, hätten die Leichen bestimmt gerne auf das teuerste Mausoleum verzichtet – doch so ist der Mensch: nur was er nicht hat, schätzt er wirklich.
Die Straße füllt sich leise mit dem durchsichtigen Rauch der Dämmerung. Lisa hat bereits Licht; doch diesmal sind die Vorhänge zugezogen, ein Zeichen, daß der Pferdeschlächter da ist. Neben ihrem Hause beginnt der Garten der Weinhandlung Holzmann. Flieder hängt über die Mauern, und von den Gewölben kommt der frische Essiggeruch der Fässer. Aus dem Tor unseres Hauses tritt der pensionierte Feldwebel Knopf. Er ist ein dünner Mann mit einer Schirmmütze und einem Spazierstock, der, trotz seines Berufes und obschon er außer dem Exerzierreglement nie ein Buch gelesen hat, aussieht wie Nietzsche. Knopf geht die Hakenstraße hinunter und schwenkt an der Ecke der Marienstraße links ab. Gegen Mitternacht wird er wieder zurückkommen, dann von rechts – er hat damit seinen Rundgang durch die Kneipen der Stadt beendet, der, wie es sich für einen alten Militär gehört, methodisch erfolgt. Knopf trinkt nur Schnaps, und zwar Korn, nichts anderes. Darin aber ist er der größte Kenner, den es gibt. In der Stadt existieren etwa drei oder vier Firmen, die Korn brennen. Für uns schmecken ihre Schnäpse alle ungefähr gleich. Nicht so für Knopf; er unterscheidet sie schon am Geruch. Vierzig Jahre unermüdlicher Arbeit haben seine Zunge so verfeinert, daß er sogar bei derselben Kornsorte herausschmecken kann, aus welcher Kneipe sie kommt. Er behauptet, die Keller wären verschieden, und er könne das unterscheiden. Natürlich nicht bei Korn in Flaschen; nur bei Korn in Fässern. Er hat schon manche Wette damit gewonnen.
Ich stehe auf und sehe mich im Zimmer um. Die Decke ist niedrig und schräg, und die Bude ist nicht groß, aber ich habe darin, was ich brauche – ein Bett, ein Regal mit Büchern, einen Tisch, ein paar Stühle und ein altes Klavier. Vor fünf Jahren, als Soldat im Felde, hätte ich nie geglaubt, daß ich es wieder einmal so gut haben würde. Wir lagen damals in Flandern, es war der große Angriff am Kemmelberg, und wir verloren drei Viertel unserer Kompanie. Georg Kroll kam mit einem Bauchschuß am zweiten Tag ins Lazarett, aber bei mir dauerte es fast drei Wochen, bis ich mit einem Knieschuß erwischt wurde. Dann kam der Zusammenbruch, ich wurde schließlich Schulmeister, meine kranke Mutter hatte das gewollt, und ich hatte es ihr versprochen, bevor sie starb. Sie war so viel krank gewesen, daß sie dachte, wenn ich einen Beruf mit lebenslänglicher Anstellung als Beamter hätte, könnte wenigstens mir nichts mehr passieren. Sie starb in den letzten Monaten des Krieges, aber ich machte trotzdem meine Prüfung und wurde auf ein paar Dörfer in der Heide geschickt, bis ich genug davon hatte, Kindern Sachen einzutrichtern, an die ich selbst längst nicht mehr glaubte, und lebendig begraben zu sein zwischen Erinnerungen, die ich vergessen wollte.
Ich versuche zu lesen; aber es ist kein Wetter zum Lesen. Der Frühling macht unruhig, und in der Dämmerung verliert man sich leicht. Alles ist dann gleich ohne Grenzen und macht atemlos und verwirrt. Ich zünde das Licht an und fühle mich sofort geborgener. Auf dem Tisch liegt ein gelber Aktendeckel mit Gedichten, die ich auf der Erika-Schreibmaschine in drei Durchschlägen getippt habe. Ab und zu schicke ich ein paar dieser Durchschläge an Zeitungen. Sie kommen entweder zurück, oder die Zeitungen antworten nicht; dann tippe ich neue Durchschläge und probiere es wieder. Nur dreimal habe ich etwas veröffentlichen können, im Tageblatt der Stadt, allerdings mit Georgs Hilfe, der den Lokalredakteur kennt. Immerhin, das hat dafür genügt, daß ich Mitglied des Werdenbrücker Dichterklubs geworden bin, der bei Eduard Knobloch einmal in der Woche in der Altdeutschen Stube tagt. Eduard hat kürzlich versucht, mich wegen der Eßmarken als moralisch defekt ausschließen zu lassen; aber der Klub hat gegen Eduards Stimme erklärt, ich handle höchst ehrenwert, nämlich so, wie seit Jahren die gesamte Industrie und Geschäfswelt unseres geliebten Vaterlandes – und außerdem habe Kunst mit Moral nichts zu schaffen.
Ich lege die Gedichte beiseite. Sie wirken plötzlich flach und kindisch, wie die typischen Versuche, die fast jeder junge Mensch einmal macht. Im Felde habe ich damit angefangen, aber da hatte es einen Sinn – es nahm mich für
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