Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
Augenblicke weg von dem, was ich sah, und es war eine kleine Hütte von Widerstand und Glauben daran, daß noch etwas jenseits von Zerstörung und Tod existiere. Doch das ist lange her; ich weiß heute, daß noch vieles andere daneben existiert, und ich weiß auch, daß beides sogar zur gleichen Zeit existieren kann. Meine Gedichte brauche ich dazu nicht mehr; in meinen Bücherregalen ist das alles viel besser gesagt. Aber was würde mit einem passieren, wenn das schon ein Grund wäre, etwas aufzugeben? Wo blieben wir alle? So schreibe ich weiter, doch of genug erscheint es mir grau und papieren gegen den Abendhimmel, der jetzt über den Dächern weit und apfelfarben wird, während der violette Aschenregen der Dämmerung schon die Straßen füllt.
      Ich gehe die Treppen hinunter, am dunklen Büro vorbei, in den Garten. Die Haustür der Familie Knopf steht offen. Wie in einer feurigen Höhle sitzen da die drei Töchter Knopfs im Licht an ihren Nähmaschinen und arbeiten. Die Maschinen surren. Ich werfe einen Blick auf das Fenster neben dem Büro. Es ist dunkel; Georg ist also bereits irgendwohin verschwunden. Auch Heinrich ist in den tröstlichen Hafen seines Stammtisches eingekehrt. Ich mache eine Runde durch den Garten. Jemand hat die Beete begossen, die Erde ist feucht und riecht stark. Wilkes Sargtischlerei ist leer, und auch bei Kurt Bach ist es still. Die Fenster stehen offen; ein halbfertiger trauernder Löwe kauert auf dem Boden, als habe er Zahnschmerzen, und daneben stehen friedlich zwei leere Bierflaschen.
      Ein Vogel fängt plötzlich an zu singen. Es ist eine Drossel. Sie sitzt auf der Spitze des Kreuzdenkmals, das Heinrich Kroll verschachert hat, und hat eine Stimme, die viel zu groß ist für den kleinen schwarzen Ball mit dem gelben Schnabel. Sie jubelt und klagt und bewegt mir das Herz. Ich denke einen Augenblick daran, daß ihr Lied, das für mich Leben und Zukunf und Träume und alles Ungewisse, Fremde und Neue bedeutet, für die Würmer, die sich aus der feuchten Gartenerde um das Kreuzdenkmal jetzt heraufarbeiten, ohne Zweifel nichts weiter ist, als das grauenhafe Signal des Todes durch Zerhacken mit fürchterlichen Schnabelhieben – trotzdem kann ich mir nicht helfen, es schwemmt mich weg, es lockert alles auf, ich stehe auf einmal hilflos und verloren da und wundere mich, daß ich nicht zerreiße oder wie ein Ballon in den Abendhimmel fliege, bis ich mich schließlich fasse und durch den Garten und den Nachtgeruch zurückstolpere, die Treppen hinauf, zum Klavier, und auf die Tasten haue und sie streichle und versuche, auch so etwas wie eine Drossel zu sein, und herauszuschmettern und zu beben, was ich fühle –: aber es wird dann doch zum Schluß nichts anderes daraus als ein Haufen von Arpeggien und Fetzen von ein paar Schmachtschlagern und Volksliedern und etwas aus dem Rosenkavalier und aus Tristan, ein Gemisch und ein Durcheinander, bis jemand von der Straße heraufschreit: «Mensch, lerne doch erst einmal richtig spielen!»
      Ich breche ab und schleiche zum Fenster. Im Dunkel verschwindet eine dunkle Gestalt; sie ist bereits zu weit weg, um ihr etwas an den Kopf zu werfen, und wozu auch? Sie hat ja recht. Ich kann nicht richtig spielen, weder auf dem Klavier noch auf dem Leben, nie, nie habe ich es gekonnt, immer war ich zu hastig, immer zu ungeduldig, immer kam etwas dazwischen, immer brach es ab – aber wer kann schon richtig spielen, und wenn er es kann, was nützt es ihm dann? Ist das große Dunkel darum weniger aussichtslos, brennt die Verzweiflung über die ewige Unzulänglichkeit darum weniger schmerzhaf, und ist das Leben dadurch jemals zu erklären und zu fassen und zu reiten wie ein zahmes Pferd, oder ist es immer wie ein mächtiges Segel im Sturm, das uns trägt und uns, wenn wir es greifen wollen, ins Wasser fegt? Da ist manchmal ein Loch vor mir, das scheint bis in den Mittelpunkt der Erde zu reichen. Was füllt es aus? Die Sehnsucht? Die Verzweiflung? Ein Glück? Und welches? Die Müdigkeit? Die Resignation? Der Tod? Wozu lebe ich? Ja, wozu lebe ich?

    III

    Es ist Sonntag früh. Die Glocken läuten von allen Türmen, und die Irrlichter des Abends sind zerstoben. Der Dollar steht immer noch auf sechsunddreißigtausend, die Zeit hält den Atem an, die Wärme hat den Kristall des Himmels noch nicht geschmolzen, und alles scheint klar und unendlich rein, es ist die eine Stunde am Morgen, wo man glaubt, daß selbst dem Mörder vergeben wird und daß gut und böse

Weitere Kostenlose Bücher