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Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend

Titel: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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Orgel; sie haben keine Vergangenheit und keine Erinnerung, und jeden Sonntag treffen die Flöten und Geigen und die Gamben ihre entfremdeten Gehirne unerwartet und neu. Dann beginnt der Priester am Altar, und sie wenden sich ihm zu.
      Nicht alle Irren folgen der Messe. In den hinteren Reihen sitzen viele, die sich nicht bewegen. Sie sitzen da, als wären sie eingehüllt in eine furchtbare Trauer und um sie wäre nichts als Leere – aber vielleicht scheint einem das auch nur so. Vielleicht sind sie in ganz anderen Welten, in die kein Wort des gekreuzigten Heilands klingt, harmlos und ohne Verstehen einer Musik hingegeben, gegen die die Orgel blaß und grob klingt. Und vielleicht auch denken sie gar nichts – gleichgültig wie das Meer, das Leben und der Tod. Nur wir beseelen die Natur. Wie sie sein mag, wenn sie sie selbst ist – vielleicht wissen es die Köpfe da unten; aber sie können das Geheimnis nicht verraten. Was sie sehen, hat sie stumm gemacht. Manchmal ist es, als wären sie die letzten Abkommen der Turmbauer von Babel, ihre Sprache sei verwirrt und sie könnten nicht mehr mitteilen, was sie von der obersten Terrasse aus gesehen haben.
      Ich spähe nach der ersten Reihe. An der rechten Seite, in einem Flirren von Rosa und Blau sehe ich den dunklen Kopf Isabelles. Sie kniet sehr gerade und schlank in der Bank. Ihr schmaler Kopf ist zur Seite geneigt wie bei einer gotischen Statue. Ich stoße die Gamben und die Register der Vox humana zurück und ziehe die Vox Celeste. Es ist das sanfeste und entrückteste Register der Orgel. Wir nähern uns der heiligen Wandlung. Brot und Wein werden in den Leib und das Blut Christi verwandelt. Es ist ein Wunder – ebenso wie jenes andere, daß aus Staub und Lehm der Mensch geworden sei. Riesenfeld behauptet, das dritte wäre, daß der Mensch mit diesem Wunder nicht viel mehr anzufangen gewußt habe, als seinesgleichen auf immer großzügigere Weise auszunutzen und umzubringen und die kurze Frist zwischen Geburt und Tod mit soviel Egoismus wie nur möglich vollzustopfen, obschon für jeden doch nur eines absolut sicher sei von Beginn: daß er sterben müsse. Das sagt Riesenfeld von den Odenwälder Granitwerken, einer der schärfsten Kalkulatoren

    und Draufgänger im Geschäf des Todes. Agnus Dei qui tollis peccata mundi.

    Ich erhalte nach der Messe von den Schwestern der Anstalt ein Frühstück aus Eiern, Aufschnitt, Bouillon, Brot und Honig. Das gehört zu meinem Vertrag. Ich komme damit gut über das Mittagessen hinweg; denn sonntags gelten Eduards Eßkarten nicht. Außerdem erhalte ich tausend Mark, eine Summe, für die ich gerade mit der Straßenbahn hin- und zurückfahren kann, wenn ich will. Ich habe nie eine Erhöhung verlangt. Warum, weiß ich nicht; bei dem Schuster Karl Brill und den Nachhilfestunden für den Sohn des Buchhändlers Bauer kämpfe ich darum wie ein wilder Ziegenbock.
      Nach dem Frühstück gehe ich in den Park der Anstalt. Es ist ein schönes, weitläufiges Gelände mit Bäumen, Blumen und Bänken, umgeben von einer hohen Mauer, und man könnte glauben, in einem Sanatorium zu sein, wenn man nicht die vergitterten Fenster sähe.
      Ich liebe den Park, weil er still ist und weil ich hier mit niemand über Krieg, Politik und Inflation zu reden brauche. Ich kann ruhig sitzen und so altmodische Dinge tun wie auf den Wind lauschen, den Vögeln zuhören und das Licht beobachten, wie es durch das helle Grün der Baumkronen filtert.
      Die Kranken, die ausgehen dürfen, wandern vorüber. Die meisten sind still, andere reden mit sich selbst, ein paar diskutieren lebhaf mit Besuchern und Wärtern, und viele hocken schweigend und allein, ohne sich zu rühren, mit gebeugten Köpfen, wie versteinert in der Sonne – bis sie wieder in ihre Zellen zurückgeschaf werden.
      Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich mich an den Anblick gewöhnt habe, und selbst heute kommt es ab und zu noch vor, daß ich die Irren anstarre wie zu Anfang: mit einem Gemisch aus Neugier, Grauen und etwas namenlosem dritten, das mich an den Augenblick erinnert, als ich meinen ersten Toten sah. Ich war damals zwölf Jahre alt, der Tote hieß Georg Hellmann, eine Woche vorher hatte ich mit ihm noch gespielt, und nun lag er da, zwischen Blumen und Kränzen, etwas unsagbar Fremdes aus gelbem Wachs, das in einer entsetzlichen Weise nichts mehr mit uns zu tun hatte, das fort war für ein unausdenkbares Immer und doch noch da, in einer stummen, seltsam kühlen Drohung. Später,

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