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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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hatte ich danach schrecklich einsame Gefühle. Ich konnte sie bezwingen, wenn es ans Verkaufen ging, hatte ich doch einen Ruf aufrechtzuerhalten (ganz zu schweigen von meinerPerson), aber wenn ich für mich allein war, warfen sie mich nieder und überwältigten mich. So ist das oft mit uns Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Wenn Sie uns auf dem Tritt des Karrens sehen, dann würden Sie beinahe alles, was Sie haben, geben, um mit uns zu tauschen. Sehen Sie uns anderswo, dann würden Sie noch etwas dazugeben, um das Geschäft rückgängig zu machen. Unter diesen Umständen machte ich die Bekanntschaft eines Riesen. Ich wäre vielleicht zu hochmütig gewesen, um ein Gespräch mit ihm anzufangen, wenn nicht meine einsamen Gefühle gewesen wären. Denn es ist die allgemeine Regel für uns Leute, die durchs Land reisen, dass wir die Grenze ziehen, wenn es ums Verkleiden geht. Wenn ein Mann sich nicht unverkleidet auf seine Fähigkeiten verlassen kann, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, dann denken wir gewöhnlich, wir seien etwas Besseres als er. Und dieser Riese trat als Römer verkleidet auf.
    Er war ein kraftloser junger Mann, was ich der Entfernung zwischen seinen Extremitäten zuschreibe. Er hatte einen kleinen Kopf und noch weniger drin, er hatte schwache Augen und schwache Knie, und insgesamt konnte man ihn nicht anschauen, ohne das Gefühl zu bekommen, dass er einfach für seine Gelenke und sein Hirn viel zu viel war. Aber er war ein liebenswerter und schüchterner junger Mann (seine Mutter vermietete ihn und gab die gesamten dadurch erzielten Einnahmen für sich aus), und wir wurden miteinander bekannt, als er zu Fuß von einem Jahrmarkt zum anderen ging, um seinem Pferd eine kleine Pause zu gönnen. Man nannte ihn Rinaldo di Velasco, und sein richtiger Name war Pickleson.
    Dieser Riese namens Pickleson vertraute mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, dass er nicht nur eine schwere Bürde für sich selbst war, sondern dass die Grausamkeitseines Herrn gegenüber einer Stieftochter, die taubstumm war, ihm das Leben zu einer schweren Bürde machte. Ihre Mutter war tot, und sie hatte keine Seele auf Erden, die sich auf ihre Seite stellte, und sie wurde äußerst übel behandelt. Sie reiste mit im Wohnwagen seines Herrn, nur weil man sie nirgends sonst lassen konnte, und dieser Riese namens Pickleson ging sogar so weit, zu glauben, dass sein Herr oft versuchte, sie unterwegs zu verlieren. Er war ein sehr kraftloser junger Mann, und er brauchte wer weiß wie lange, um diese Geschichte herauszubekommen, aber schließlich gelangte sie doch durch seinen stockenden Kreislauf bis zu seiner obersten Extremität.
    Als ich diese Geschichte vom Riesen namens Pickleson hörte und auch vernommen hatte, dass das arme Mädchen wunderschönes, langes dunkles Haar hatte und oft daran gezerrt und geschlagen wurde, da konnte ich den Riesen vor Tränen, die in meinen Augen standen, kaum noch sehen. Nachdem ich sie fortgewischt hatte, schenkte ich ihm Sixpence (denn er wurde so kurz gehalten, wie er lang war), und er gab sie für zweimal Threepence Gin und Wasser aus, was ihn so aufmunterte, dass er das beliebte komische Lied »Bibber, zitter, ist’s nicht kalt?« 7 sang – eine Lachnummer, die als Römer abzuziehen ihn sein Herr mit allen anderen Methoden völlig vergeblich zu überreden versucht hatte.
    Sein Herr hieß Mim, ein sehr grober Mann, den ich flüchtig kannte. Ich ging also als einfacher Bürger auf diesen Jahrmarkt und ließ meinen Karren draußen vor derStadt stehen und schaute mich hinter den Wohnwagen um, während die Vorstellung lief, und endlich sah ich da, gegen ein schlammverkrustetes Wagenrad gelehnt und schlummernd, das arme Mädchen, das taubstumm war. Auf den ersten Blick hätte ich beinahe glauben mögen, sie sei der Schau wilder Tiere entsprungen; aber auf den zweiten bildete ich mir eine bessere Meinung von ihr, und ich dachte, wenn man sich mehr um sie kümmerte und sie freundlicher behandelte, dann würde sie vielleicht wie mein Kind werden. Sie war in genau dem Alter, in dem meine Tochter gewesen wäre, wenn ihr hübsches Köpfchen an jenem unglückseligen Abend nicht auf meine Schulter gesunken wäre.
    Kurz gesagt, ich sprach unter vier Augen mit Mim, während er draußen zwischen zwei von Picklesons Auftritten den Gong schlug, und sagte zu ihm: »Sie fällt Ihnen schwer zur Last; was nehmen Sie für sie?«
    Mim fluchte gotteslästerlich. Wenn man diesen Teil der Antwort

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