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Der schwarze Schleier

Der schwarze Schleier

Titel: Der schwarze Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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Gefühl,dass ich ihr gegenüber meine Schuldigkeit nicht ganz getan hätte, und ich überlegte, dass sie besseren Unterricht haben sollte, als ich ihn ihr geben konnte. Es führte zu vielen Tränen auf beiden Seiten, als ich begann, ihr meine Ansichten zu erläutern; aber Recht muss Recht bleiben, und daran kann man weder mit Tränen noch mit Lachen etwas ändern.
    Also nahm ich ihre Hand in die meine und ging eines Tages mit ihr in die Einrichtung für Taubstumme in London, und als ein Herr kam, um mit uns zu sprechen, sagte ich zu ihm: »Jetzt sage ich Ihnen, was ich mache, Sir. Ich bin nur ein Billiger Jakob, aber ich habe in den letzten Jahren trotzdem etwas für harte Zeiten auf die hohe Kante gelegt. Dies ist meine einzige (adoptierte) Tochter, und tauber oder stummer, als sie ist, geht es nicht. Bringen Sie ihr so viel bei, wie es in der kürzesten Trennungszeit nur möglich ist – sagen Sie mir den Preis dafür –, und dann lege ich das Geld auf den Tisch. Ich werde keinen einzigen Viertelpenny abziehen, Sir, sondern es gleich hier auf den Tisch des Hauses zählen, und ich würde Ihnen noch dankbar ein Pfund dazugeben, wenn Sie es annehmen. Da!«
    Der Herr lächelte und meinte dann: »Nun ja«, sagte er, »zunächst muss ich wissen, was sie schon alles gelernt hat. Wie verständigen Sie sich mit ihr?«
    Da zeigte ich es ihm, und sie schrieb in Druckbuchstaben viele Namen von Dingen und so weiter auf; und wir führten eine lebhafte Konversation, Sophy und ich, über eine kleine Geschichte in einem Buch, das der Herr ihr zeigte und das sie lesen konnte.
    »Das ist außerordentlich«, sagte der Herr. »Ist es möglich, dass Sie ihr einziger Lehrer gewesen sind?«
    »Ich bin ihr einziger Lehrer gewesen, Sir«, antwortete ich. »Außer ihr selbst.«
    »Dann«, meinte der Herr, und nie hat jemand mir angenehmere Worte gesagt, »sind Sie ein sehr schlauer Bursche und ein guter Kerl.«
    Das teilte er auch Sophy mit, die ihm die Hände küsste, in die ihren klatschte und darüber lachte und weinte.
    Wir besuchten den Herrn insgesamt viermal, und als er meinen Namen aufschrieb und mich fragte, wie um alles in der Welt es gekommen war, dass ich Doktor hieß, stellte sich heraus, dass er, ob Sie’s glauben oder nicht, der liebe Neffe (mütterlicherseits) desselben Arztes war, nach dem ich benannt wurde. Das machte unseren Umgang noch leichter, und er sagte zu mir: »Nun, Marigold, sagen Sie mir, was soll Ihre adoptierte Tochter noch lernen?«
    »Ich möchte, Sir, dass sie so wenig wie möglich von der Welt abgeschnitten ist, trotz ihrer Beeinträchtigung, und dass sie daher alles, was geschrieben steht, mit vollkommener Leichtigkeit und mit Vergnügen lesen kann.«
    »Mein lieber Mann«, protestierte der Herr und riss die Augen weit auf, »nun, das kann ja nicht einmal ich!«
    Ich begriff seinen Scherz und belohnte ihn mit einem Lachen (da ich wusste, wie einem zumute ist, wenn es ausbleibt) und berichtigte meine Aussage entsprechend.
    »Was soll nachher mit ihr geschehen?«, fragte der Herr mit etwas zweifelndem Blick. »Soll sie mit Ihnen durchs Land ziehen?«
    »Im Karren, Sir, aber nur im Karren. Sie wird im Karren ein zurückgezogenes Leben führen, müssen Sie verstehen. Ich würde nie daran denken, ihr Gebrechen der Öffentlichkeit vorzuführen. Ich würde sie nicht um alles Geld der Welt ausstellen.«
    Der Herr nickte und schien einverstanden zu sein.
    »Nun«, sagte er, »können Sie sich zwei Jahre von ihr trennen?«
    »Um ihr diesen Dienst zu tun – ja, Sir.«
    »Da wäre noch eine andere Frage«, meinte der Herr und schaute zu ihr hin. »Kann sie sich zwei Jahre von Ihnen trennen?«
    Ich weiß nicht, ob das nun an sich schwerer war (denn das andere fiel mir schwer genug), jedenfalls war es schwerer zu vollbringen. Schließlich war sie beschwichtigt, und unsere Trennung war beschlossene Sache. Wie sie uns erschüttert hat, als sie schließlich kam und ich sie eines Abends im Dunklen an der Tür zurückließ, will ich nicht erzählen. Aber eines weiß ich: Wenn ich an jene Nacht denke, dann kann ich an dieser Einrichtung nie ohne ein Stechen im Herzen und einen Kloß im Hals vorübergehen; und ich könnte Ihnen nicht mit meiner gewöhnlichen Laune die besten Partien vorlegen – nein, nicht mal das Gewehr, und auch nicht die Brille –, selbst wenn mir der Staatssekretär des Innenministeriums fünfhundert Pfund Belohnung zahlte und noch die Ehre dazugäbe, dass ich anschließend meine Beine unter seinen

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