Der schwarze Schleier
stellte sich die Frage nach einem Namen. Wie sollte ich diesesheiße Eisen in Form hämmern? So. Die schwierigste Erklärung, die ich ihr je geben musste, war die, wie es geschehen war, dass ich Doktor heiße und doch keiner bin. Schließlich hatte ich das Gefühl, dass es mir selbst mit äußerster Mühe nicht gelungen war, das richtig in ihre Gedanken hineinzubekommen. Da ich mich auf ihre Fortschritte in den zwei Jahren verließ, überlegte ich, dass ich damit rechnen durfte, dass sie es verstehen würde, wenn sie es, von meiner eigenen Hand niedergeschrieben, lesen würde. Dann, dachte ich mir, würde ich es mit ihr mit einem kleinen Scherz versuchen und sehen, wie sie damit zurechtkam, woraus ich vollends beurteilen könnte, wie gut sie es verstanden hatte. Zuerst hatten wir das Missverständnis entdeckt, in das wir verfallen waren, als sie mich bat, ihr eine Arznei zu verschreiben, weil sie mich für einen Doktor im medizinischen Sinne hielt; also dachte ich mir: Nun, wenn ich dieses Buch meine Rezepturen nenne und wenn sie begreift, dass meine Rezepturen nur für ihre Unterhaltung und ihr Interesse bestimmt sind und sie auf angenehme Weise zum Lachen bringen sollen, dann ist es für uns beide ein herrlicher Beweis, dass wir dieses Missverständnis überwunden haben. Der Plan gelang aufs Vollkommenste. Denn als sie das Buch sah, wie ich es zustande gebracht hatte – das gedruckte und gebundene Buch, das im Karren auf ihrem Schreibtisch lag, und als sie den Titel sah – DOKTOR MARIGOLDS REZEPTUREN –, da blickte sie mich einen Moment voller Erstaunen an, blätterte es dann durch und brach in das entzückendste Lachen aus, fühlte sich dann den Puls und schüttelte den Kopf, blätterte die Seiten um und gab vor, sie höchst aufmerksam zu lesen, küsste dann das Buch und presste es mit beiden Händen an ihren Busen. Nie im Leben war ich zufriedener!
Aber ich will nicht vorgreifen. (Ich entnehme diesenAusdruck den vielen Romanen, die ich für sie gekauft habe. In jedem, den ich davon aufgeschlagen habe, und ich habe wahrhaftig viele aufgeschlagen, hat der Romancier unweigerlich geschrieben: »Aber ich will nicht vorgreifen.« Da das nun einmal so ist, frage ich mich, warum er dann vorgegriffen hat und wer ihn gebeten hat, das zu tun.) Also, wie ich schon sagte, ich will nicht vorgreifen. Dieses Buch nahm all meine Freizeit in Anspruch. Es war kein Kinderspiel, all die anderen Artikel in dieser buntgemischten Partie zusammenzubekommen, aber als es dann an meinen eigenen Artikel ging! Da! Ich konnte es gar nicht glauben, wie viel Kleckserei, wie viel harte Buckelei, wie viel Geduld dazu gehörte. Das ist wieder genau wie auf dem Karrentritt. Die Leute haben ja keine Ahnung.
Endlich war es vollbracht, und die beiden Jahre waren wie all die anderen vor ihnen dahingegangen, und wohin, wer weiß das schon? Der neue Karren war fertig – außen gelb, mit Zinnoberrot abgesetzt und mit Messingbeschlägen –, das alte Pferd war davor gespannt, und ein neues und ein Junge waren für den Karren des Billigen Jakobs besorgt worden – und ich hatte mich herausgeputzt, um sie abzuholen. Es war ein strahlender, kalter Tag, die Schornsteine der Karren rauchten, die Karren waren auf einem Stück Ödland draußen in Wandsworth aufgestellt, wo man sie zwar von der Bahnstrecke der Southwestern Railway, aber nicht von der Straße aus sehen konnte (wenn man stadtauswärts rechter Hand aus dem Fenster schaut).
»Marigold«, sagte der Herr und schüttelte mir herzlich die Hand, »ich freue mich, Sie zu sehen.«
»Doch bezweifle ich, Sir«, erwiderte ich, »dass Sie sich nur halb so freuen, mich zu sehen, wie ich mich freue, Sie zu sehen.«
»Die Zeit ist Ihnen lang geworden, was, Marigold?«
»Das will ich nicht sagen, Sir, wenn ich ihre wahre Länge bedenke, aber …«
»Was für ein Auftritt, mein Lieber!«
Ah, das war es wohl! Sie war zu einer solchen Frau herangewachsen, so hübsch, so intelligent, so ausdrucksvoll! Da wusste ich, dass sie wirklich wie mein Kind sein musste, sonst hätte ich sie niemals wiedererkannt, wie sie da still bei der Tür stand.
»Sie sind gerührt«, sagte der Herr freundlich.
»Ich habe das Gefühl«, antwortete ich, »dass ich nur ein ungehobelter Bursche in einer Weste mit Ärmeln bin.«
»Und ich habe das Gefühl«, erwiderte der Herr, »dass Sie es waren, der sie aus Elend und Erniedrigung gerettet und sie mit Leuten ihrer Art zusammengebracht hat. Aber warum sprechen wir hier allein, wenn
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